Es gibt nicht besonders viel, wozu man Sarah beglückwünschen möchte, die da, mühsam mit einem Schlauch am Leben gehalten, in der Klinik liegt. Nach einem Unfall, den sie selbst herbeigeführt hat, als letztes Aufbegehren, als letzten Versuch, sich gegen ihr Schicksal aufzulehnen und die Hilflosigkeit. Eine Frau, die wie ein Schatten, wie ein Gespenst durch diesen Film läuft. Eine Frau, der Unerträgliches widerfahren ist, das sich tief in ihr Gesicht eingeschrieben hat.
Dass sie, die Schicksalslose, die eigentlich gar nicht Sarah heißt, ausgerechnet in den Zuständigkeitsbereich von Doreen Brasch geraten ist, das war dann allerdings schon ein Glück. Die sagt: „Wenn sie jetzt stirbt, ist es so, als hätte es sie nie gegeben.“ Und solange Sarah lebt, solange – das ist Braschs unerschütterbares, unterschwelliges Versprechen – wird sie sich kümmern.
Brasch ist Kümmerin und Kommissarin. „Widerfahrnis“ ist ihr 20. Fall im Magdeburger „Polizeiruf“-Kommissariat. Claudia Michelsen spielt Brasch. Und man sollte – aber das nur nebenbei – ihr vielleicht jene Ehre zuteilwerden lassen, die zuletzt einzig Axel Milbergs Borowski zuteilwurde, und ihre Kriminalfilme mit „Brasch und …“ übertiteln.
Sie verdanken nämlich sämtlich ihre Mechanik und ihre Eindrücklichkeit der wortkargen Einzelgängerin, der Kraft jenes Mitgefühls, dessen Alphabet Claudia Michelsen in Körpersprache, in Blicke umzusetzen versteht wie keine Zweite. Sie ist die unterkühlte Wärmekammer des deutschen Polizeifilms. Und sie legt mit jeder Ermittlung Zeugnis ab für die Kraft der Empathie und ein so leises wie lautstarkes Veto ein gegen jemanden wie Elon Musk, für den Empathie ein Zeichen von Schwäche ist.
Wir müssen leider – auch das ist ja inzwischen ein bisschen aus der Mode gekommen – weiterloben. „Widerfahrnis“ ist nämlich – was der Magdeburger „Polizeiruf“ immer ist, wenn er besonders gut ist – eine Spiegelgeschichte, die Geschichte zweier Frauen, die sich ähneln, die sich gut verstehen würden, läge die eine nicht mit einem Polytrauma im Koma und müsste nicht die andere nicht versuchen, zu rekonstruieren, was die erste mit dem Schlauch in der Kehle nicht mehr erzählen kann.
Mareike Sedl spielt Sarah. Sie hat (1975 in Erfurt geboren) mit Zadek gearbeitet, mit Karin Beier, mit Stephan Kimmig, Klaus Michael Grüber und Luc Bondy, mit allen Großen des Theaters. Umut Dag, den „Widerfahrnis“-Regisseur, kennt sie von der großartigen Mini-Serie „Am Anschlag – Die Macht der Kränkung“. Man wird ihren Blick, die stumme Verzweiflung auf ihrem Gesicht nicht mehr vergessen, wenn es vorbei ist mit „Widerfahrnis“. Und ihr ein paar Fernsehpreise gönnen.
Im Laub landen wie Abfall
Es ist Nacht über der Magdeburger Börde. Brasch sitzt im Auto, eine Bierflasche liegt auf ihrem Beifahrersitz. Windräder drehen sich magisch im Kreis. Rote Lichter blitzen. Zwei Frauen stehen im Wald. Sie rauchen. Dann geht eine zur Straße. Wortlos. Man sieht ein Auto kommen. Man hört Bremsen quietschen. Einen Aufprall. Die andere weint. 17 Meter wird Sarah durch die Luft geschleudert. Sie landet im Laub wie Abfall. Dass noch Leben in ihr ist, erfühlt erst Brasch. Da graut schon der Morgen.
Eigentlich Fahrerflucht, kein Fall für die Kriminalpolizei. Dass Brasch diese Tatsache völlig wurscht ist, erkennt Lemp (Felix Vörtler), ihr Chef, der ihr so zugetan ist wie kein anderer Polizeirat im deutschen Fernsehen einer Kommissarin, sofort. Er hat Brasch ein Reservat eingerichtet für ihren Eigensinn. Er lässt sie gewähren. Lässt sie rekonstruieren, was uns Zora Holtfreter und Lucas Thiem in geradezu mustergültig erzählten und von Umut Dag perfekt verbauten Rückblenden zeigen. Die Geschichte eines glücklichen Lebens und was aus ihm wurde. Lässt uns Anteil nehmen. „Widerfahrnis“ ist die Feier von Tugenden, die völlig verbrannt wurden im Fegefeuer der sozialen Medien.
Während Brasch in der Gegenwart auf die Suche geht nach irgendwelchen Spuren, die Sarah nicht nur am Unfallort, sondern überhaupt in der Welt hinterlassen hat, sehen wir Sarah in der gerade vergangenen Vergangenheit weinend vor einem Haus stehen. Weil da mal eine Party war. Weil da mal ihr Glück begann. Und jetzt wieder ein Glück beginnen könnte, weil es Aylin gibt und Berna. Die leben jetzt in jener Wohnung, wo alles begann. Und nehmen die Abgehärmte, die in einer Stunde Film kaum mehr als drei Worte spricht, aber unendlich viel mit ihrer Miene sagt, mit unter die wärmende Decke ihrer Menschlichkeit.
Berna stellt keine Fragen. Berna lässt sie bei sich leben. Und für sich an ihrer Stelle als Putzkraft arbeiten, wenn sie – alleinerziehend, Studentin – Freiraum braucht. Und dann begegnet Sarah auf der Toilette einem Mann, dem sie nie wiederbegegnen wollte. Oder vielleicht gerade doch. René Tamm, Architekt, Mann mit Frau und Kind und Eigenheim und Porsche. Sie sieht ihn. Sie stalkt ihn. Sie erkennen einander. Ob sie das alles so geplant hat, bleibt offen. Das Leben läuft manchmal halt so. Eine Existenz ist gestorben, eine andere soll ihrer Zerbrechlichkeit gewiss werden.
Man hätte auch eine Mini-Serie aus „Widerfahrnis“ machen können. Die folgen gern über Stunden den Geheimnissen, auf denen bürgerliches Leben fußt. Und leben von der Nacherzählung des Auseinanderbrechens ihres Glücks. Ein Geheimnis der Langeweile, die einen bei Miniserien gern beschleicht, offenbart „Widerfahrnis“ relativ schonungslos: Was in gut acht Stunden erzählt wird, lässt sich in anderthalb auch ganz gut erzählen.
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