Ein allerletztes Mal durfte sie noch. Wie ein lauwarmer Frühlingsregen prasselten die Großkaliber des Besinnungsvokabulars auf die Anwesenden nieder, die zur Eröffnung des Theatertreffens in das Haus der Berliner Festspiele gekommen waren: Es geht um Hoffnung, Haltung, Freiheit, Mut, Liebe, Schönheit, Radikalität und noch einiges mehr. Bei ihrem letzten Auftritt im Amt lässt Claudia Roth, die grüne Kulturstaatsministerin, nichts unversucht, um die Kunst wieder einmal als Universalkleber krisenzerrütteter und -geschüttelter Gesellschaften anzupreisen. „Kultur ist der Sound unserer Demokratie“, tönt die Chefpropagandistin der Kultur-ist-Kitt-Ideologie. Doch wer da noch etwas wie Inhalt erwartet, wird – wie des Öfteren in ihrer Amtszeit – von Roth kräftig enttäuscht.
Roths Rede ist das lebendige Beispiel, wie Sprache von einem Mittel der Verständigung zwischen Menschen unterschiedlicher Ansichten herabsinkt zu einem Vorrat von Signalen für Menschen der gleichen Ansicht. „Liebe Demokratinnen und Demokraten“, geht es, wie bei Roth üblich, direkt los. Wo Demokratie nur noch Gruppenzugehörigkeit signalisiert, muss selbstverständlich nicht diskutiert werden, welche gesellschaftlichen Verkehrsformen dem Begriff der Demokratie überhaupt würdig wären. Stattdessen werden die Reihen geschlossen, im Hochgefühl solcher Selbstbeweihräucherung ist man ganz bei sich. Den „Sound“ zum besinnungslosen Gruppenkuscheln, selbst ein Symptom der großen Regression, der es zu widerstehen meint, soll die Kunst liefern.
Mit Claudia Roth in Kitschgewittern
Die Zeiten sind finster, nur das Theater leuchtet, setzt Roth ihre Lektionen fort. Man fühlt sich wie in Kitschgewittern: „Ich habe gelernt, dass Kunst heilen kann und gleichzeitig wehtun muss.“ Autsch. Manches tut weh, ist aber keine Kunst. Trotzdem gibt es kräftigen Applaus für die „liebe Claudia“, wie sie von Matthias Pees, als Leiter der Berliner Festspiele der Gastgeber des Theatertreffens, genannt wird. Pees leitet sein Grußwort mit einer Bruno-Ganz-Aufnahme von Friedrich Hölderlins „Vom Abgrund nämlich“ ein. „Herzlich Willkommen im Abgrund!“, ruft Pees. Und Abgrund ist, so darf man lernen, wo marketingkonforme Diversitäts- und Inklusionsprogramme gestrichen werden, während Sozialprogramme, die der Aufrüstung geopfert werden, weniger der Rede wert sind.
Und klar, es ist nur allzu verständlich: Es sind für die öffentlich geförderten Theater, die unter Spar- und Legitimationsdruck stehen, keine einfachen Zeiten. Doch „dräut“ deswegen tatsächlich der Weltuntergang, wie es im programmatischen Essay „Schwarz ist das neue Schwarz“ eines Theatertreffen-Jurors heißt? Was sollen da die Leute sagen, für die jetzt schon jedes Monatsende wie ein Weltende ist, weil es zum Überleben kaum reicht? Oder handelt es sich nur um das alte Missverständnis, die Krise der eigenen Weltanschauung für den Weltuntergang zu halten? Doch selbst das lässt sich noch ins Hoffnungsvolle drehen, die Krise ist – wer hätte es gedacht – auch eine Chance. „Wer im Abgrund lebt, hat das Gröbste hinter sich“, so Pees, der für „Wege aus der Angst“ wirbt.
Ja, man könnte sagen, dass Hohlphrasen und Schaumsprache in Eröffnungsreden dazugehören. Nichts Neues im Kulturbetrieb und nichts, worüber man sich aufregen müsste. Oder doch eine schlechte Gewohnheit, die man nicht weiter pflegen sollte? Polemisch gesagt dienen Weltuntergangsrhetorik und Mutmachparolen der Identitätsvergewisserung eines Milieus, das sich einer hochtrabenden kulturellen Mission verpflichtet fühlt, während es politisch mehr und mehr in Konfusion versinkt. Beim Versuch, sich einen Reim auf die Welt zu machen, kommt man oft nur noch bis zum projektiven Moment, das zur selbst versichernden Feindbildproduktion zwar ausreicht, von einer präzisen Gesellschaftsanalyse aber himmelweit entfernt ist.
Das Programm bietet mehr
Nur lässt sich der Befund, dass bei der Eröffnung des Theatertreffens trübe im Atmosphärischen gefischt wird, auf das Programm übertragen? Oder anders gefragt: Wie viel Roth steckt im Theatertreffen? „Dieser Jahrgang ist ein düsterer“, heißt es in dem bereits erwähnten Essay „Schwarz ist das neue Schwarz“ über die Auswahl der zehn bemerkenswertesten Inszenierungen des vergangenen Jahres, ein Moll-Ton herrsche vor. „Der Blick nach vorn macht keine Freude.“ Und der zurück auch nicht. Viele Inszenierungen der Auswahl erwecken den Eindruck, dass sowohl mit der Geschichte – dem empfangenen Erbe – als auch der Zukunft gehadert wird. Hat der Alpdruck der toten Geschlechter über die Aufarbeitung der Vergangenheit gesiegt?
Wie düster ist der Jahrgang wirklich? Allein die Eröffnungsinszenierung – Katie Mitchells „Bernarda Albas Haus“ vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg, eine Neufassung von Alice Birch nach dem Klassiker von Federico García Lorca – ist so unheimlich und bedrückend, dass es allein für mehrere Theaterabende reichen würde. Auf knapp 90 Minuten beschränkt geht es unter die Haut: Julia Wieninger als verhärmte Hausherrin will ihre Töchter vor der Männerwelt draußen beschützen, doch aus dem „Safe Space“ wird ein Horrorhaus. Es ist das klaustrophobische Psychogramm einer geschlossenen Welt, in der jedes Zimmer im großartigen Setzkastenbühnenbild von Alex Eales einen Sturm ausbrütet. Am Ende zerstört sich dieses System der tyrannischen Fürsorge selbst.
Eine lichtarme Atmosphäre der Gewalt, die „Bernarda Albas Haus“ nicht nachsteht, verbreitet auch Ersan Mondtags „Double Serpent“, eine Uraufführung von Sam Max am Staatstheater Wiesbaden. Und auch hier wird die scheinbar harmonische Ordnung durchkreuzt, dafür wird’s heftig traumatisch. Und, als drittes Beispiel, kann man den Abend „Die Gewehre der Frau Carrar / Würgendes Blei“ vom Münchner Residenztheater nennen, in dem die Regisseurin Luise Voigt den Klassiker von Bertolt Brecht mit einer uraufgeführten Weiterschreibung von Björn SC Deigner konfrontiert – und mit dem Bühnenbild auch die Gewissheiten einer kritischen Tradition zusammenkrachen lässt. Düsternis, so könnte man zusammenfassen, setzt ein, wo Ordnungsversuche scheitern.
Als Gegenstück zu den genannten Abenden mit dunklen Abgründen lassen sich mit „Blutbuch“ vom Theater Magdeburg, Florentina Holzingers Opernperformance „Sancta“ und „Unser Deutschlandmärchen“ vom Maxim-Gorki-Theater Berlin drei Abende nennen, die in die Kategorie Mutmachstücke fallen. Drei Abende, die man unters wenig aussagekräftige Schlagwort „Diversität“ zählen könnte oder die, etwas präziser, eine Erfahrung der Unterdrückung ästhetisch ins Hoffnungsfrohe wenden. „Empowerment“ also, was bei Holzinger in nackig, bei Jan Friedrichs „Blutbuch“ nach dem Roman von Kim de l’Horizon in angezogen und bei Hakan Savaş Micans „Unser Deutschlandmärchen“ nach dem Roman von Dinçer Güçyeter mit viel Musik passiert.
Abgründe und Aufbrüche
Das Nebeneinander von Abgründen und Aufbrüchen ist kennzeichnend für die diesjährige Auswahl des Theatertreffens. Zudem sich beides bevorzugt im Atmosphärischen abspielt. Diffuse Weltuntergangsstimmung und die Feier diverser Identitätsentwürfe sind auch deswegen vorherrschend, weil es das gespaltene Bewusstsein der kulturellen Klasse und der progressiven Milieus auf den Punkt bringt: zwischen einer analytisch kaum noch bewältigbaren ästhetischen und politischen Verzweiflung an der Welt – und der schwindenden Gestaltungsmacht, die man in ihr hat – und dem Rückzug auf eine individualistisch-spätpostmoderne Identitätspolitik. An diesem Punkt trifft sich das, was auf den Bühnen passiert, mit der Rede von Roth.
Und dann gibt es noch „ja nichts ist ok“, die letzte Arbeit des im vorigen Jahr plötzlich verstorbenen René Pollesch mit Fabian Hinrichs. Ein Abend, den man kaum genug loben kann, weil in ihm das Schwanken zwischen Weltschmerz und Selbstschutz zum Thema wird. Weil er das sich ausbreitende soziale Misstrauen als Geschichte einer WG mit „Gesprächen über Sauberkeit und Politik“ erzählt. Weil er die Austauschbarkeit der Rollen im öffentlichen Polarisierungssog als Charaktermaskengroteske – Hinrichs spielt mit aufreizend-komischer Langsamkeit mehrere Figuren gleichzeitig – verhandelt. Kurz: Weil er so witzig, so traurig, so klug und so selbstreflexiv ist, dass man den Eindruck hat, hier könnte das Theater wirklich einmal die Gegenwart in Bildern und Sprache erfasst haben.
Dass sich unter den gezeigten Stücken beim Theatertreffen viele düstere finden, lässt sich als Befund bestätigen. Dass es düsterer ist als in den vorigen Jahren, jedoch nicht unbedingt, zudem immer mehr bunte Vielfalt auf der Bühne gefeiert wird. Auffällig ist das Nebeneinander dieser beiden Momente. Und dazwischen? Eine Leerstelle, die auch kein Kulturkitt zu füllen vermag? In den nächsten zwei Wochen kann man sich selbst einen Eindruck verschaffen, ob das Theater bereits am Abgrund angekommen ist oder nicht (wer keine Karten bekommt, kann sich über die Mitschnitte in der Mediathek von 3sat freuen). Oder in den Worten von Claudia Roth: „Was für ein Moment, sich zu verabschieden.“ Es war kein leises Servus, aber eines, das irgendwie passte.
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