Kaum jemand kennt das Innere der Mafia so gut wie Roberto Saviano. In seinem neuen Buch "Treue" geht es um die Rolle der Töchter, Geliebten und Ehefrauen der Mafiosi. Die kriminellen Strukturen bestimmen ihr Leben - und häufig auch ihren Tod.
Als er nichts mehr hat, was er beim Pokern setzen kann, schmeißt Lou ein Bild seiner Ehefrau auf den Tisch. Er verliert die Runde und seine Frau wird die ganze Nacht von zwei Mitspielern vergewaltigt. Kurze Zeit später stirbt Lou durch einen Genickschuss. Aber nicht, weil er seiner Frau etwas Grausames angetan hat. Der Boss lässt ihn ermorden, weil er als nächstes vielleicht Informationen über die Mafia preisgibt. Lou ist zu einer Gefahr geworden.
Mit dieser Geschichte beginnt Roberto Saviano sein neues Buch "Treue", in dem er sich anhand von 12 realen Fallbeispielen mit der Rolle der Frauen in der Mafia beschäftigt. Sie sind Ehefrauen, Töchter und Geliebte, sie dienen als Köder und werden beseitigt, manchmal übernehmen sie Führungsrollen. Aber meistens haben die Frauen genau einen Zweck: Sie sind dazu da, damit Männer ihre Macht demonstrieren und festigen können.
Frauen werden - das zeigt schon die Eingangsgeschichte - oft wie Ware behandelt. Aus Liebe heiraten? Ist nicht vorgesehen. "Geheiratet wird mit dem Verstand, nicht mit dem Herzen", schreibt Saviano. Mafia-Ehen sind fast immer arrangiert, für die Frauen oft ein Albtraum und sollen, wie früher in Adelsfamilien, neue Bündnisse schmieden, Kontrolle sichern - und für die unerlässlichen Nachkommen sorgen: "Bei der Cosa Nostra ist die Frau in erster Linie Gebärmaschine". Und diese Gebärmaschine muss Söhne auf die Welt bringen.
Ein bedrückendes Beispiel dafür ist das Schicksal von Vicenzina. Sie wächst "im Dunstkreist der Mafia" auf und heiratet Leoluca Bagarella, der bis zu seiner Verhaftung auf der Interpol-Fahndungsliste der weltweit gefährlichsten Verbrecher steht. Nach zwei Fehlgeburten und einer Totgeburt ist Vicenzina verzweifelt: Ohne Söhne wird sich ihr Mann nicht als Boss der sizilianischen Corleonesi behaupten können. Und die Verantwortung für die Kinderlosigkeit lastet auf ihr als Ehefrau. Vicenzina nimmt einen Zettel, schreibt darauf "Ich bin an allem schuld, ich wollte das nicht", legt ihn für ihren Mann auf den Küchentisch und erhängt sich.
Ein Camorrista braucht Geliebte
Die "famiglia" bedeutet in der patriarchal strukturierten und archaischen Werten verhafteten Welt der Mafia alles. Frauen werden von ihren Vätern, Brüdern und Cousins bewacht. Sitzen ihre Ehemänner im Knast, wird erwartet, dass sie ergeben ausharren. Wer versucht, aus dem eigenen Gefängnis auszubrechen und zum Beispiel fremdgeht, hat sein Leben verwirkt. So wie Maria Concetta Cacciola, die einen Internet-Flirt trifft, erst von ihren Brüdern verprügelt und dann tot aufgefunden wird.
Für Männer gelten andere Gesetze. Sie dürfen eine Geliebte haben - jedenfalls, sofern sie zur Camorra gehören. Während ein sizilianischer Boss seiner Ehefrau treu sein muss, um damit auch seine Loyalität gegenüber seinem Clan zu demonstrieren, ist es für das Kriminellen-Charisma eines Camorrista unerlässlich, als Verführer wahrgenommen zu werden. Sind ihm viele Frauen gleichzeitig treu, zeugt das von seiner Führungsstärke.
Eine besondere Kronzeugin
Um zu zeigen, wie "die Mafia mit dem Gefühlsleben, dem Romantischen, der Sexualität umgeht", greift Saviano auf seinen schon aus früheren Publikationen bekannten literarisch-reportagigen Stil zurück, schreibt detailreich und fesselnd - an einigen Stellen auch mit einer großen Portion Pathos. Für seine zwölf Geschichten hat Saviano sein eigenes Wissen angereichert und Begründungen von Gerichtsurteilen studiert, Zeitungsartikel ausgewertet, Prozesse als Beobachter verfolgt sowie mit Ermittlern und Kronzeuginnen gesprochen.
Unter diesen Kronzeuginnen war auch Anna Carrino, die Frau des Camorrista Francesco Bidognetti, der Saviano seit fast 20 Jahren mit dem Tod bedroht. Seit Saviano 2006 sein dokumentarisches Anti-Mafia-Buch "Gomorrha" veröffentlicht und darin die Klarnamen von Mafia-Bossen genannt hat, steht der Autor unter ständigem Polizeischutz.
Carrino genießt den Respekt des Casalesi-Clans und wird "commare", Gevatterin, genannt. Als Bidognetti ins Gefängnis kommt, übernimmt sie als seine Stellvertreterin die Geschäfte, einmal lässt sie einen Mann ermorden, weil der ihren Sohn beleidigt hat. Dann findet sie heraus, dass ihr Mann eine Affäre hatte - und alle außer ihr davon wissen. Sie will ihn verlassen, seine Reaktion: "Wenn du das machst, betonier' ich dich ein". Carrino weiß: Das ist keine leere Drohung. Sie verschwindet und kooperiert aus Rache mit der Polizei. "Heute lebt Anna Carrino unter einer falschen Identität an einem geschützten Ort", schreibt Saviano. "Sie kümmert sich um ältere Menschen, putzt Wohnungen, räumt Zimmer auf, erledigt die niedrigsten Arbeiten und sagt, sie sei dankbar und zufrieden."
Brutalität ist nicht nur männlich
In "Treue" (übersetzt von Anna Leube und Wolf Leube) zeigt Saviano sehr deutlich, dass Brutalität und Skrupellosigkeit keineswegs den Männern vorbehalten sind. Das trifft auch auf Bidognettis Geliebte zu: Die freundet sich mit einer jungen Frau an, um sie dann zu entführen und einen Monat lang barbarisch zu foltern. In einem anderen Beispiel schließt die Frau eines Paten mit ihrem Mann einen Deal: Er bringt seine Geliebte um, dafür kümmert sie sich um die Tochter der beiden.
Insgesamt ist es kein komplett neues Bild, das Saviano von der Cosa Nostra, der Camorra, der 'Ndrangheta und in zwei Fällen von den südamerikanischen Narcos entwirft. Aber mit seinem Blick auf die Frauen zeichnet er es auf beklemmende Weise scharf und macht sichtbar, wie stark sich die Mafia-Strukturen selbst auf die intimsten Beziehungen auswirken.
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