Der 1931 in Berlin geborene Maler Frank Auerbach gilt neben Lucian Freud als einer der einflussreichsten britischen Künstler seiner Generation. Aufgewachsen in der Güntzelstraße 49, wo heute zwei Stolpersteine an seine beiden Eltern Charlotte und Max erinnern, wurde er 1938 vorsorglich auf eine Schule in England geschickt, wodurch er dem Holocaust entging. Am 2. Mai wird die überhaupt erst dritte Ausstellung von Werken Frank Auerbachs in Deutschland bei Michael Werner eröffnet. Der Maler war im vergangenen Jahr schließlich bereit, seine Heimatstadt zu besuchen. Dazu sollte es nicht mehr kommen. Frank Auerbach verstarb am 11. November 2024 93-jährig in London. Anlässlich der Berliner Ausstellung sprachen wir mit seiner Biografin Catherine Lampert, die den zurückgezogen in London lebenden Maler über Jahrzehnte begleitet hat – zunächst als sein Modell, bald als Gesprächspartner. Ihr Buch „Frank Auerbach – Gespräche und Malerei“ (Sieveking, 2015) gilt als Standardwerk.
WELT AM SONNTAG: Sie haben Frank Auerbach so gut gekannt wie kaum jemand sonst. Über einen Zeitraum von 46 Jahren bis kurz vor seinem Tod haben sie ihm jede Woche Modell gesessen. Aus den Gesprächen, die Sie dabei geführt haben, schrieben Sie vor zehn Jahren ein Standardwerk. Fühlten Sie sich ihm nahe?
Catherine Lampert: Mit Ausnahme von ein paar Wochen während der Pandemie habe ich Frank von Mai 1978 bis September 2024 jede Woche gesessen. In den letzten Jahren, als er nicht mehr so viele Leute gesehen hat, haben wir während der Sitzung und davor und danach immer viel geredet. Es war für mich ein ganz besonderes Privileg, Frank Auerbach so nahe sein zu dürfen, dessen Atelier ich übrigens immer in einer fantastischen, ausgeglichenen Stimmung verlassen habe.
WAMS: Das klingt fast wie eine spirituelle oder meditative Erfahrung.
Lampert: Die Leute sagen oft, dass es eine Qual sei, wenn man für jemanden sitzt. Mir erging es genau umgekehrt. Denn wenn man ein Innenleben hat, über das man nachdenken möchte, und dann zwei Stunden lang nur dasitzt, dann macht das etwas mit einem, dann findet man leichter zum Kern.
WAMS: Die Gespräche mit Auerbach haben Sie mitgeschnitten – oder haben Sie Ihr Buch damals aus dem Gedächtnis geschrieben?
Lampert: Auf dem Weg nach Hause habe ich mir in der U-Bahn immer sofort Notizen gemacht und versucht, so viel wie möglich von Franks Anekdoten und Kommentaren festzuhalten. So wuchs das Buch von Woche zu Woche.
WAMS: War Frank Auerbach oft im Atelier?
Lampert: Fast jeden Tag. Er hat eigentlich immer gemalt. Er musste auch nicht lange überlegen, wenn es darum ging, zu welcher Farbe er griff. Er wusste genau, wo die Farben waren, sowohl in den großen Ölfarbenbehältern als auch in den Tuben. Er war kein Künstler, der lange überlegte und dann ein bisschen Farbe auf seiner Palette mischte. Er arbeitete sehr schnell und eher instinktiv als analytisch. Er hatte also eine Idee im Kopf und ganz genau vor Augen, wie ein Werk aussehen sollte. Wenn er fertig war, konnte er innerhalb von Sekunden entscheiden, ob er es für fertig hielt.
WAMS: Frank Auerbach malte bis zu seinem Tod in Öl. Ölbilder müssen nass in nass gemalt werden. Immer wieder hat er Bilder gelöscht, indem er die Farbe von der Leinwand wieder abkratzte. Bedeutete das, dass er eine klare Vorstellung oder Vision davon hatte, wie das Bild in einem spirituellen Sinne aussehen sollte, und wenn er diese bestimmte Idee nicht umsetzen konnte, kratzte er es ab und bereute es am nächsten Tag?
Lampert: Er hatte ein Gespür für etwas, das er mit einem Motiv noch nicht erreicht hatte, egal ob es eine Person oder ein Ort war, und er versuchte, das umzusetzen. Den Weg dorthin kannte er nicht. Also hat er ein im Entstehen begriffenes Bild ein ums andere Mal wieder abgekratzt, um es am nächsten Tag erneut zu malen. Manchmal wartete er bis zur Stunde, zu der ich wieder zum Sitzen kam, weil man Ölfarbe auch nach einer Woche noch abschaben konnte. Er scherzte immer, er sei der beste Kunde des Farbenhändlers, weil er so viel Farbe für seine Arbeiten verbrauchte, selbst für ganz kleine Werke. Wann genau er ein Werk vollendet hatte – das schien ihm stets das jeweilige Bild selbst zu sagen, als würde es zu ihm sprechen. Auch als Modell spürte ich es regelrecht: „Dieses Mal schafft er es.“
WAMS: Lassen Sie uns über das Selbstporträt sprechen, das er kurz vor seinem Tod malte und das jetzt in der Galerie Michael Werner zu sehen sein wird.
Lampert: Frank Auerbach wusste in seinem letzten Lebensjahr definitiv nicht, dass sein Selbstporträt eines seiner letzten Bilder sein würde. Er ging mit der Zuversicht ins Krankenhaus, dass er selbstverständlich bald wieder würde arbeiten können. Anders als die große Mehrzahl seiner Gemälde hat er diese letzten Selbstporträts aber nicht in Öl, sondern in Acryl gemalt. Er war nicht mehr so gut zu Fuß, es fiel ihm auch schwer aufzustehen oder sich hinzusetzen. Vielleicht auch deshalb widmete er sich so intensiv diesen eher kleinen, handlichen Selbstporträts, weil er sich komplett nach seinem Körper und seiner Stimmung richten konnte. Er konnte in seinem Atelier sitzen und sich eine Tasse Tee kochen, und wenn der Moment gekommen war, malte er einfach weiter an einem begonnenen Bild. Ich finde, dass man diese in sich ruhende späte Herangehensweise dem Bild auch anmerkt: Im Vergleich zu einigen der anderen späten Selbstporträts ist es für mich ein ausgesprochen ruhiges und irgendwie gelassenes Bild in einer warmen bräunlich-grauen, gelblich-grauen Farbpalette. Frank schaut in die Ferne, und in der unteren rechten Ecke hat er eine seltsame Form gemalt. Für mich ist das ein Kaninchen, nicht seine Schulter. Und weil es sich um ein Porträt nach seinem Spiegelbild handelt, ist alles natürlich seitenverkehrt.
WAMS: Diese Ruhe im Selbstbildnis ist nicht selbstverständlich bei Auerbach.
Lampert: Bemerkenswert an diesem späten Selbstporträt ist, dass es kein gequältes Selbstbildnis ist. Es gab ja 2022 eine Ausstellung von Selbstporträts, zuerst in London und dann in New York, in der wirkten viele der gezeigten Porträts geradezu gewalttätig. Die Leute waren zudem überrascht, weil er sich zum Teil einer ungewohnten Palette aus rosa und blauen Farben bediente, wodurch einige dieser Selbstporträts fast wie Karikaturen wirkten. Im Vergleich dazu wirkt dieses späte Bildnis würdevoll und besonnen. Auch wenn er nicht wusste, dass er dem Tod so unmittelbar gegenüberstand, markiert es eine geradezu introvertierte Abschwächung des Dramas, durch das er gehen musste.
WAMS: Frank Auerbach wurde als jüdisches Kind von seinen Eltern auf eine Schule nach England geschickt, wo er seitdem bis zu seinem Tod in London lebte. Hatten Sie den Eindruck, dass er sich seiner ersten Ausstellung in Berlin mit größerem Interesse als sonst genähert hat?
Lampert: Auf jeden Fall. Nachdem er Reisen nach Deutschland jahrzehntelang vermieden hatte, war Frank von der Idee regelrecht begeistert, mit 93 Jahren ein erstes Mal in seiner Heimatstadt auszustellen. Da hat sicherlich sein Sohn Jake eine Rolle gespielt, der die deutsche Sprache gelernt hat, einen deutschen Pass besitzt und seit vielen Jahren regelmäßig nach Berlin gefahren ist. Jake berichtete Frank von der Stadt und hat Berlin auf eine neue Art bei ihm in Erinnerung gerufen.
WAMS: Hatte er für die Ausstellung spezielle Bilder ausgewählt?
Lampert: In den Monaten vor seinem Tod ging es im Zuge der Ausstellung natürlich auch um die Auswahl, welche 25 Bilder wir zeigen würden. Frank äußerte die Absicht, bestimmte autobiografische Aspekte zu betonen. Er war von 1963 bis 1976, also etwa 13 Jahre lang, von seiner Frau und seinem Sohn Jake getrennt. Als sie in den 80er-Jahren wieder zusammenkamen, malte er eine Reihe ganz besonderer Bilder. Eines davon wird in der Ausstellung zu sehen sein, es zeigt die Familie auf den Stufen der St. Pancras Station in London. Ein anderes ist eine Landschaft von Primrose Hill, ebenfalls aus derselben Zeit, die auf eine Art sehr fröhlich ist, wie es weißgott nicht alle Bilder von Primrose Hill sind. Auf diesem Bild ist auch seine Frau Julia zu sehen, die ihn dorthin begleitet hat. Man erkennt es nicht auf den ersten Blick, aber sie ist eine der Figuren auf dem Hügel. Diese Bilder betonen autobiografische Momente, die Frank sehr lieb und teuer waren. Ohne dass diese Deutung von ihm beabsichtigt gewesen wäre, kann die Ausstellung bei Michael Werner jetzt also wie ein Abschied von Frank Auerbach gelesen werden, ein Geschenk von Frank an Berlin, von einem Unschuldigen an die Stadt, aus der seine jüdische Familie stammt.
Ab 3. Mai, Galerie Michael Werner
Ausstellung „Frank Auerbach“, ab 3. Mai 2025, Galerie Michael Werner, Berlin
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