Der japanische Philosoph Kohei Saito hat 2023 mit seinem Bestseller „Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus“ die Augen für einen alten Denker geöffnet: Karl Marx. Der zeige in seinen späten Fragmenten den Weg aus der ökologischen Misere in eine Zukunft kooperativer Allmendenwirtschaft, wie sie die „Degrowth“-Bewegung predigt (Allmende bezeichnet nutzbares Land, das als Gemeinschaftseigentum von jedermann beweidet werden darf; der englische Begriff Degroth steht für eine Ideologie des Verzichts auf Wirtschaftswachstum und Konsum, Anm. d. Red.).

Dass die Natur nicht erst den späten, sondern auch schon den jungen Marx in seinem Denken beherrschte und wie sehr sich sein Bild von der Natur aus literarischen Quellen speiste, das erfahren wir bei Kohei Saito nicht. Genau hier legt der Göttinger Literaturwissenschaftler Heinrich Detering nach und liest den geistigen Vater des Kommunismus gegen den Strich: „Die Revolte der Erde. Karl Marx und die Ökologie“ heißt sein Buch. Da Detering bereits mehrere philologische Studien zum ökologischen Denken vorgelegt hat (etwa über Albrecht von Haller, Alexander von Humboldt und Annette von Droste Hülshoff sowie zu Friedrich Engels’ Naturtheorie), scheint es nur folgerichtig, dass er sich nun auch Marx zuwendet.

Ohne Ökologie keine Ökonomie bei Marx

Marx, wie Detering ihn zeichnet, war nicht nur stupender Literaturliebhaber, der selbst lyrisch debütierte, bevor er überhaupt an aktive Gesellschaftsveränderung dachte. Er bezog seine Argumente und sprachlichen Bilder auch als Philosoph aus einem breiten literarischen Spektrum, vor allem aus der Romantik, mit deren allumspannender Gefühlswelt er aufgewachsen war. Des Weiteren von den Leuchttürmen einer europäischen Weltliteratur wie Goethe, Shakespeare und Dante. Die Literatur, so Deterings These, lieferte Marx bereits untergründig die ökologische Dimension seiner ökonomischen Theorie, bevor er wissenschaftlich über die Erde als Ressource und Lebensgrund zu reflektieren begann. Dies ist dann auch die unverhoffte Pointe der reich bebilderten und überzeugend Marx in die Ahnenreihe ökologischen Denkens passende Studie: Detering schildert Naturbilder und -philosophie der Romantik als eine Art Vorschule und antizipierendes Korrektiv der empirischen Naturwissenschaften des späteren 19. Jahrhunderts, etwa eines Charles Darwin und Ernst Haeckel.

Marx könnte man damit nicht nur als Naturrevolutionär aus dem Geist der Romantik neu begreifen, sondern im Anthropozän auch als einen Denker, der die „zarte Empirie“ eines Goethe oder die Geognostik eines Novalis verbindet mit handfester Kritik an der Akkumulation des Kapitals. Denn das dem Kapitalismus eingeschriebene Wachstum, da ist sich Detering einig mit Saito, ist es, das uns der Erde entfremdet und uns von der Natur immer nur das übrig lässt, was sich als Ware mit Tauschwert versetzen lässt.

Griffig heißt es bei Marx: „Der Mensch lebt von der Natur, heißt: Die Natur ist sein Leib, mit dem er in beständigem Prozess bleiben muss, um nicht zu sterben.“ Detering resümiert die eingetretene Störung im Naturverhältnis wie folgt: „Der Kapitalismus mit seiner Transformation der Arbeitsmittel, der Arbeitenden und der Arbeitsprodukte in Tauschwerte, in Waren, in Kapitel – dieser Kapitalismus ist die tödliche Stoffwechselstörung dieses Leibes. Er ist es nicht erst in einzelnen Auswirkungen, sondern schon in seiner Konstitution selbst.“ So wird plötzlich begreiflich, weshalb ein Marx verpflichteter Dichter wie Brecht immer wieder emphatisch von Bäumen sprach, deren Stoffwechsel anders als die Erde kapitalistischer Mehrwertschöpfung wieder zur Erde zurückfließt, ein Modell von Nachhaltigkeit, das Wachstum nicht an Geld, sondern den Prozess natürlichen Gedeihens knüpft.

Dem Vorbild der von Brecht gepriesenen Bäume kommen wir mit Marx und Saito jedoch nur nahe, wenn wir, so Deterings Argumentation, die gegenwärtige „Revolte der Erde“ als Anlass nehmen, dem Kapitalismus eine Subsistenzwirtschaft entgegenzusetzen. Gemeint ist das System, das Marx an Gesellschaftsformen sogenannter „primitiver“ oder agrarischer Genossenschaften studierte: Aus der Erde entnommen und ihr wieder zugeführt werden nur Allgemeingüter. Die „Commons“ sind das letzte Glied in einer Kette von Denkvorstößen zur Ökonomie der Erde, das um 1840 mit einem Hymnus auf die Elemente und einer Polemik gegen das Verbot des Sammelns von Totholz begonnen hatte.

Dass die deutsche Wirtschaft nunmehr das dritte Jahr in Folge stagniert und die Prognosen düster bleiben, mag menschengemacht sein, aber mit Marx bleibt der Mensch als Gesellschaftstier immer auch der Natur verhaftet. Ist das „Degrowth“ also ein Weckruf der Erde in uns selbst, die Ökologie in unserem gesellschaftlichen Wertesystem endlich vor die Ökonomie zu stellen? Heinrich Deterings Buch versteht sich als Handreichung für Ökomarxisten.

Heinrich Detering: Die Revolte der Erde. Karl Marx und die Ökologie. Wallstein, 221 Seiten, 28 Euro

Jan Röhnert ist Professor für Literaturwissenschaft an der TU Braunschweig. Zuletzt erschien sein Buch „Wildnisarbeit. Schreiben, Tun und Nature Writing“ (Arco Verlag)

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