Alexander Scheer ist in diesem Jahr gleich doppelt für den Deutschen Filmpreis nominiert - als bester Nebendarsteller in "In Liebe, Eure Hilde" und "Köln 75". Beide Filme stellen starke Frauenfiguren in den Mittelpunkt. Während Scheer in "In Liebe, Eure Hilde" einen Gefängnispfarrer im NS-Widerstand spielt, verkörpert er in "Köln 75" den legendären Jazzproduzenten Manfred Eicher.

Im Interview mit ntv.de spricht der 48-Jährige über seine Doppelnominierung, die Bedeutung von Widerstand und Emanzipation im Film - und warum er sich als Schauspieler immer wieder neu herausfordern will.

Du bist gleich zweimal als bester Nebendarsteller nominiert. Wie fühlt sich das an?

Alexander Scheer: Ja, schon ein bisschen schizophren heute. (lacht)

Sind zwei gute Nebenrollen genauso gut wie eine mittelmäßige Hauptrolle?

Gute Frage (lacht). Für mich gibt es keine Nebenrollen. Wir freuen uns über jede Arbeit, die gut ist. Ob das jetzt sechs Drehtage oder 60 sind. Gute Rollen sind selten, gute Rollen in guten Filmen sind noch seltener, gute Rollen in zeitlosen, unsterblichen Kult-Filmen oder Klassikern sind so gut wie unmöglich. Ich fange immer bei null an. Mich interessiert alles, was ich nicht kenne. Ich weiß, was ich kann. Mich interessiert, was ich nicht kann.

Bei beiden Filmen stehen starke Frauenfiguren im Mittelpunkt der Erzählung ...

...und beide sind von Männern gemacht. Im Fall von "Köln 75" geht es um die 18-jährige Vera Brandes, die 1975 zwei Herren aus dem Musikbusiness sagte, wie der Hase läuft. Dass man über so eine starke Frauenfigur einen Film macht - es hat fast 50 Jahre gedauert. Und es ist immer noch ein Mann, der das Buch schreibt. Das Buch ist fantastisch und der Film auch. Aber wir sind noch lange nicht da, wo wir hin müssten, was das angeht.

Wie schätzt du deine Chancen bei der Preisverleihung ein?

Ich gehe davon aus, dass es nicht klappt. Mit Godehard Giese ist ein fantastischer Schauspieler mit mir nominiert, ein super Kollege. Ich war schon mal mit ihm nominiert, und da habe ich den Preis gekriegt. Und jetzt ist er mal dran. Dieses Jahr gibt es drei Doppelnominierungen - Hauptdarsteller, Nebendarsteller und Musik. Ich frage mich, warum immer dieselben Kolleginnen und Kollegen? Es gibt andere, die seit Jahren fantastische Arbeit machen und noch nie eine Nominierung oder gar einen Award gekriegt haben. Ich fühle mich natürlich geschmeichelt und will mich auch nicht beschweren. Aber es müssen doch nun auch nicht immer dieselben Leute sein. Ich glaube, der Film-Zirkus ist einfach zu klein in Deutschland.

In "In Liebe, Eure Hilde" spielst du einen Gefängnispfarrer. Was verbindet dich persönlich mit dieser Figur?

Es ist ein Film über Widerstand. Ich spiele Harald Pölchau, einen Gefängnispfarrer, der über 1000 Hinrichtungen in der NS-Zeit begleitet hat. Und ich habe tatsächlich einen persönlichen Bezug zu dieser Figur. Mein Großonkel ist vor ein paar Jahren mit 95 gestorben, der war als 16-Jähriger auch in einer Widerstandsgruppe. Er saß in Tegel, in Moabit und auch in Plötzensee und hat dort einmal mit dem Pfarrer Pölchau zu tun gehabt. Er wäre auch hingerichtet worden, wenn nicht die Sowjetarmee gekommen wäre und das Gefängnis aufgemacht hätte.

Warum sind solche Filme heute besonders wichtig?

Man weiß viel zu wenig über Widerstand. Es waren junge Leute, die sagten: Wir wollen das Leben. Das ist nicht anders als heute. Aber wir sagen auch, was wir denken, was gesagt werden muss. Solche Filme sind enorm wichtig. Die NS-Zeit ist das deutsche Tabuthema schlechthin. Man muss sich viel offener, viel transparenter damit auseinandersetzen. Denn es sind nicht nur die Deutschen die Nazis, das Problem lauert überall. Der Mensch an sich ist ein Monster. Man muss aufpassen, Augen und Ohren weit aufmachen - und auch mal den Mund.

Die zweite Nominierung hat dir die Rolle von Jazzproduzent Manfred Eicher in "Köln 75" eingebracht. Hast du auch eine persönliche Verbindung zu dieser Figur oder zum Jazz ganz allgemein?

Mich interessieren Film und Musik. Wenn das zusammenkommt, bin ich besonders froh. Mal einen Musikproduzenten zu spielen, einen Jazzproduzenten, war wunderbar - Manfred Eicher ist ja eine fast schon religiös verehrte Figur in der internationalen Jazzszene. Während der Vorbereitung war ich in Mexiko für einen anderen Film und bin länger geblieben. Mit Bluetooth-Kopfhörern im Pazifik schwebend, habe ich mir Jazzplatten angehört. Es gibt schlimmere Wege, sich auf eine Arbeit vorzubereiten. (lacht) Aber wie spielt man jemanden, der eigentlich nur Musik im Kopf hat?

Und? Was war der Trick?

Weniger Text, mehr Blicke. Wir haben immer mehr Sätze gestrichen. Einfach da zu sein, viel zuhören und wenig sagen. Eine gute Energie im Raum - offen und trotzdem voller Spannung, wie ein guter Jazzakkord. Und manchmal war es tatsächlich nur ein Blick. Im Jazz sind es oft nicht die Noten, die man spielt, sondern die Noten, die man weglässt.

Du spielst oft reale Personen. Macht es die Herangehensweise an eine Figur einfacher, wenn es eine Art Vorlage dafür gibt?

Ich finde es tatsächlich einfacher. Al Pacino sagte mal bei den Golden Globes: "Du hast da ein wirkliches Leben, und das macht es viel einfacher, weil du weißt, es hat stattgefunden." Die Arbeit ist sowieso immer interessant und man braucht viel Fantasie. Aber im Falle von historischen Personen ist die Hälfte der Arbeit schon getan. Du musst die Figur nicht mehr erfinden. Sie ist da.

Für "In Liebe, Eure Hilde" hast du zum wiederholten Male mit Andreas Dresen zusammengearbeitet. Wie wichtig ist dir Kontinuität?

Ich bin ein Freund von Kontinuität. Ich bin auch ein Freund von "Wir fangen bei null an, wir kennen uns nicht und wir gucken mal", aber ich bin auch ein Freund davon, wenn man sagt, wir machen da weiter, wo wir aufgehört haben. Wenn Dresen anruft und fragt "Hast du Lust auf einen Priester?", sagt man nicht nein. Er ist einer der Besten.

Du stehst auch als Musiker auf der Bühne, zum Beispiel mit Andreas Dresen und Gundermann-Songs. Wie kam es dazu?

Nach dem Gundermann-Film dachten wir, wenn wir die Premierentour machen und in verschiedenen Filmtheatern Deutschlands den Film präsentieren, dann spielen wir davor oder danach ein paar Songs. Wir dachten, das machen wir eine Woche - und das wird dieses Jahr der sechste Sommer sein. Das hätte vorher niemand gedacht. Wir spielen rund 20 Shows im Jahr, vor ausverkauften Häusern im Osten und im Westen. Was will man mehr?

Für "Heroes" verkörperst du gerade David Bowie im Berliner Ensemble. Wie hast du dich an diese Ikone der Popkultur herangetastet?

Das sind die Sachen, die mich reizen. Man hätte auch tierisch baden gehen können. Da sitzen 800 Leute im Berliner Ensemble, dem berühmtesten Theater der Welt, in dem David Bowie saß und sich Brecht angeguckt hat. Und du gehst dann da raus und machst beides. Da denkt man schon: "Ich werde auf die Mütze kriegen." Aber wer, wenn nicht wir? Gegen die Wand, aber dann wenigstens mit Haltung. Come on, let's try.

Hast du vor solchen Auftritten noch Lampenfieber?

Lampenfieber oder eine Form von Anspannung? Immer. Immer. Immer. Immer. Als ich von meiner doppelten Nominierung erfuhr, war ich mitten in den Endproben für "Heroes". Es war sehr eng gestrickt. Ich habe nicht mehr aufs Telefon geguckt bis Mittwoch. Dann sah ich erst die unzähligen Glückwünsche von Kolleginnen und Kollegen. Das hat mir so Auftrieb gegeben. Meine Woche war gerettet und damit auch die Premiere am Donnerstag.

Und es ist ja gut gelaufen. Ich habe die Premiere gesehen ...

Dann weißt du es ja: Es ist etwas Ungewöhnliches passiert - die Leute haben getanzt. Das letzte Mal wurde bei einer Vorstellung im Berliner Ensemble 1956 getanzt, das muss noch bei einer Brecht-Premiere gewesen sein.

Welche Rolle spielt Kunst deiner Meinung nach in politisch so schwierigen Zeiten?

Unsere Gesellschaft entwickelt sich zunehmend in Richtung Vereinzelung des Individuums. Das Erleben von Gemeinschaft findet fast nur noch in der Kultur statt. Es bliebe noch Fußball, der ist aber selten politisch. Kunst, Musik, Theater und Film, darin transportieren sich die Themen unserer Zeit. Ich bin privilegiert, ich habe Erfolg in meiner Arbeit und kann diese Figuren spielen. Wir erzählen Geschichten, das ist unser Beitrag. Auch wenn wir in erster Linie unterhalten - wir haben auch den Auftrag, den Finger in die Wunde zu legen, Dinge ins Gedächtnis zu rufen, wachzurütteln oder auch mal zu protestieren.

Das scheint die Berliner Politik anders zu sehen ...

Der Berliner Senat spart die Stadt gerade zu Tode. In Berlin gibt es Baustellen und Kultur. Und die Leute kommen nicht wegen der Baustellen. Es ist einfach zu klein gedacht, gerade da anzusetzen, wo es noch die wenigen Freiräume gibt, um über gesellschaftspolitisch relevante Themen nachzudenken. Wir können sie zwar nicht direkt ändern, aber wir können einen Raum aufmachen und einen Diskurs anschieben. Das ist Kunst und Kultur. Was anderes gibt's nicht.

Mit Alexander Scheer sprach Nicole Ankelmann

Der Deutsche Filmpreis (Lola) wird am 9. Mai in Berlin vergeben.

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