Magische Hände. Man sieht – ihr Besitzer ist klein, der Orchestergraben tief – im Londoner Royal Opera House Covent Garden zunächst nur diese sich im Scheinwerferspot recken. Und auch im Verlauf der folgenden fünfdreiviertel Stunden (auf der Bühne gibt es übersichtlich viel zu sehen) schweift der Blick immer wieder zu diesen empor fliegenden, in der Luft verharrenden, dann wieder entschwindenden zehn Fingern mit Stab. Denn es ist einfach so außergewöhnlich, so bannend toll, so erzählerisch bunt und nuancenreich vielfältig, wie Antonio Pappano hier neuerlich Wagners „Walküre“ musikerzählt. Und am Ende steht er dann selbst auf der Szene, verschwitzt, aber glücklich lachend, inmitten seiner Musiker, reißt diese Hände samt Armen weit auf – und das vorher fast atemlos gebannte Publikum johlt vor Begeisterung.
Was nicht ohne Pikanterie ist. Denn der 65-jährige Pappano war bis Ende der letzten Saison hier Musikchef, 22 gloriose, von vielen Aufnahmen und Kinoübertragungen begleitete Jahre. Im Herbst beginnt der 43-jährige Jakub Hrůša als Pappanos Nachfolger. Dem sind hier zwar einige gute Vorstellungen von „Carmen“ bis „Lohengrin“ (jüngst auch „Jenufa“) gelungen, aber der zurückhaltende Tscheche ist längst nicht so sehr für sein Opernschaffen berühmt, wie es Pappano, Sohn italienischer Gesangslehrer, selbst Repetitor und Opernchef in Oslo wie Brüssel, auch mit Bayreuth-Ehren geschmückt, bereits vor seinem Amtsantritt in London war.
Und während der Ex-GMD in aller Gemütlichkeit bis in die übernächste Saison hinein an seinem alten Haus jeweils eine „Ring“-Premiere zelebriert und sich dafür ausgiebig feiern lässt, soll der Neue anschließend die komplette Tetralogie schultern – obwohl er bisher keinen einzigen Teil davon dirigiert hat. Und für seine erste Spielzeit 25/26 überrascht Hrůša mit einer „Tosca“, mit „Die Sache Makrpoulos“ sowie einer „Peter Grimes“-Übernahme eher mäßig. Es wird für ihn nicht leicht werden, sich aus dem Pappano-Schatten zu befreien. Zumal, wenn der sich mit dem Voranschreiten des „Ring“ weiterhin wagnerpotenziert.
Denn schon diese „Walküre“ setzt auf ein flüssiges, stimmungsvoll dargebrachtes „Rheingold“ gewaltig eins drauf. Weil man die völlige Vertrautheit von Orchester und Chef erleben kann, das lässige Loslassen und wieder Einfangen der Musiker, die vor allem in den Streichern vollmundig blühen, kuppelschön überwölbt von herrlich sonorem Blech. Das fängt schon mit dem wilden Unwetter des ersten Vorspiels an, dem vorweggenommen grimmigem Walkürenritt des zweiten, um in einem letzten, sich wiegenden Feuerglimmen zartsanft und doch grüblerisch zu verklingen; während Äste und Stamm der kahlen Weltesche auf der noch kahleren, meist nebelumwaberten Bühne von Rufus Didwiszus von Flammenzungen beleckt werden.
Antonio Pappano gelingt eine große, erhabene, dabei immer mitfühlend menschliche „Walküre“, kontraststark, laut, aber auch abschattiert, intim. Und das voller Natürlichkeit, ohne fummelige Mystik. Selten hat man Wagners unfassbares Handwerk so konkret klar in der Entwicklung und Varianz seiner Motivik, ganz nah am Bühnengeschehen und dann doch wieder so majestätisch abstrakt, zum sinfonischen Musikfluss sich aufschwingend, erlebt. Das ist stimmig ausbalanciert, sinnlich und sinnhaft, es gibt keine blinde Stelle, keinen tauben Moment. Und doch wirkt es spontan und wird dabei souverän zusammengehalten.
Bei Kosky ginge mehr
Akustisch ist diese „Walküre“ also pures Glück. Und szenisch? Ein Okay ist heute schon viel. Gerade auch für den vielbeschäftigten Barrie Kosky, der diese Saison nach Offenbach in Paris, Sondheim und Glass in Berlin, Puccini in Zürich und vor einem Vivaldi-Pasticcio in Salzburg als sechste Premiere diesen nicht eben kleinen Wagner in London fabriziert hat. Er setzt überraschungslos seine „Rheingold“-Sichtweise fort. Als Memento Mori dreht sich die hier eigentlich gar nicht vorkommende Erda als nackte, uralte Frau auf einer kleinen Scheibe: alles im Blick, nichts sehend, weil sie die Hände vor das Gesicht schlägt. Später bringt sie den Wälsungengeschwistern als wonnestürmender Lenz einen Korb Frühlingsblumen, steht auch zum Aktende für einen Dreier bereit, wenn es zwischen den Wälsungen inzestuös brodelt.
Was vor allem vokal geschieht: Denn die schlanke, für die schwangere Lise Davidsen als Sieglinde eingesprungene Natalya Romaniw hat eine satte Tiefe, ebenso der gerade vom Bariton zum Tenor emporsteigende Stanislas de Barbeyrac als Siegmund. Eher brav: der bullige Hunding Solomon Howard.
Auch die Weltesche ist wieder da: im ersten Akt als angekokelte Holzwand der Hundingshütte, im zweiten, wo zunächst Peitschenlampen stehen und die madamige Fricka der vokal zuschnappenden Marina Prudenskaya die Bühne beherrscht, als querliegendes Teilstück; im dritten dann vollends bizarr den Walkürenfelsen ersetzend, während die Walküren als prollige Putzfrauen des Krieges auf Wagen ihrer bröselnden Heldenüberreste hereinfahren.
Der überbeschäftigte Kosky verlässt sich also auf sein Können als Personenregisseur, das er hier feinsinnig einsetzt. Für einen intellektuellen Überbau, eine Neudeutung der Tetralogie, wenigstens einen überraschenden Seitenaspekt langt es nicht; selbst die mahnend blanke Erda bleibt nur Gimmick und Behauptung. So schlicht wie die Kostüme Victoria Behrs bleibt die nur schraffierte Wagner-Nacherzählung. Also müssen diese – neben der hier über Gebühr wichtigen Musik, die Protagonisten mit Ego und Stimme füllen. Das gelingt dem Wotan-Debütanten Christopher Maltman wie der Brünnhilde Elisabet Strid so leidlich.
Beiden fehlt es freilich in der Höhe an Expansionsfähigkeit, sie singen am Limit, mit etwas zu kleinen Stimmen für die Riesenpartien. Maltman, von der Regie konventionell behandelt als Anzugträger mit Astspeer, hat zudem nur wenig Farben für die komplexen Momente dieses Vaters, Ehemanns, Sohnesmörders und abtreten wollenden Weltführers. Und trotzdem: Allein wegen dieses Wagner-Sounds hat sich die ordentlich erzählte, anständig gesungene Londoner „Walküre“ unbedingt gelohnt.
Am 14. Mai live in ausgewählten Kinos.
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