Und für einen Moment steht alles still in Berlin: Sie ist jetzt nicht mehr da. Es wird heute nirgendwo ein Raum ein wenig wärmer und lichter werden, weil sie ihn betritt – langsam, bedacht, immer die Eleganteste – und ihr Lächeln anknipst, das wie eine Umarmung war.

Es wird nirgendwo ein Blatt rascheln, dann einen Moment des Schweigens geben, dann ihren Blick, der jeden direkt ansah und eine Frage war.

Über hundert Jahre, das schien bei Margot Friedländer immer nur irgendeine Zahl; sie wurde zarter, aber ihre Worte blieben kräftig; die Luft wurde ihr knapp, aber ihre Stimme blieb eindringlich. Es wollten alle denken, dass sie immer bleibt. Nur sie hat angelegentlich erinnert: „In meinem Alter weiß man ja nie“. Aber dann war sie doch immer stärker als alle anderen.

Margot Friedländer hatte Umarmungen für jeden, und um es in banalen Worten zu sagen: Das war ein Wunder. Sie war ein Berliner, ein Kreuzberger Mädchen, geboren in dieser wilden Stadt der Zwanzigerjahre, die bald zur dunklen Stadt werden sollten. Sie hat oft von dieser ihrer Heimatstadt erzählt, von den Straßen, auf denen sie aufwuchs. Und wie ihren Eltern klar wurde, dass die irgendwann nicht mehr sicher waren, nicht für sie, die jüdische Familie. Aber die Emigration gelang nicht. Ihre Mutter, ihr Bruder, ihre gesamte Familie wurde deportiert und ermordet. Sie allein konnte sich lange verstecken, überlebte das Konzentrationslager Theresienstadt. Und verließ das Land, zusammen mit ihrem Mann, den sie dort wieder getroffen hatte, 1946 in Richtung Amerika. Um nicht zurückzukehren.

Ein gelber Stern aus Stoff, ein Notizbuch, eine Bernsteinkette, das war alles, was ihr geblieben war von ihrem Leben, und das war, was sie in ihr viertes Leben mitbrachte, viertes, so nannte sie es: Nach der Kindheit, dem Ende der Kindheit, dem Leben in Amerika. Sie breitete es manchmal aus, auf dem Tisch in ihrer kleinen Charlottenburger Wohnung: Das war alles, was ihr geblieben war, von der Mutter, und Worte, die sie den Nachbarn für die Tochter hinterlassen hatte: „Versuche, dein Leben zu machen“.

Margot Friedländer hielt sich an die Worte. Sie machte ihr Leben in den USA, und in dem Leben hatte das Grauen ihrer Jugend, ihrer jungen Jahre lange keinen Raum. Über 80 Jahre alt war Margot Friedländer, als sie, die New Yorkerin – und was für eine! – nach dem Tod ihres Mannes anfing, immer häufiger nach Berlin zu reisen. Es gefiel ihr wieder, in ihrer Heimatstadt. Mit dem Trauma, so sagte sie es selbst einmal, musste sie leben, aber nun redete sie darüber.

Irgendwann fasste sie den Entschluss: Die Rückkehr sollte für immer sein. Da war Margot Friedländer 88 Jahre alt. Und sie wurde zum Fixstern eines kleinen und größeren Kreises an Freunden, die um sie waren, einer neuen Familie. Und zum Fixstern auch der ganzen Stadt. Was sie Berlin in den 15 Jahren gegeben hat, weiß jeder, der auch nur einmal erlebt hat, wie sie den Raum betreten hat.

Es waren viele Räume: Offizielle und weniger offizielle, große und kleine, mit großem oder kleinem Publikum, sie machte keinen Unterschied. Sie war ständig in Schulen unterwegs und ist überall Menschen begegnet, hat diskutiert und aus ihren Erinnerungen vorgelesen, geschrieben, erzählt. Zugehört. Sie hat gelächelt, auch wenn sie müde war.

Wie andere Überlebende nahm Margot Friedländer sehr genau wahr, was in den vergangenen Jahren passierte, welche Partei plötzlich wieder Erfolge feierte. Wie antisemitische Übergriffe zunahmen, wie Unsagbares wieder sagbar wurde. Sie blieb immer freundlich, aber sie wurde auch immer eindringlicher. Sie hat zuletzt sehr oft gesagt: „So hat es damals auch angefangen“.

Sie ist jetzt nicht mehr da: Margot Friedländer hatte sehr viel übernommen, sehr viel geladen, auf ihre zarte Figur, seit sie zurück in diesem Land war. Die Berliner, die deutsche Gesellschaft hat sich auf sie gestützt, nicht umgekehrt. „Ich tue das für Euch“, so hat sie es selbst einmal formuliert, und in solchen Momenten haben alle genickt, aber es ist unklar, ob es wirklich alle verstanden haben, wie viel das war: Die Erinnerungsarbeit, die Gewissensarbeit, die Verantwortung. Jetzt müssen wir es verstehen.

Es ist ohnehin praktisch ausgeschlossen, dass, wer Margot Friedländer begegnet ist, sie je vergisst, aber nur zur Sicherheit: Die Worte, die ihr am wichtigsten waren, waren diese: „Seid wachsam“. Vor allem aber: „Seid Menschen“.

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