Sie war der größte Mensch, den man sich vorstellen konnte. Mit einem Händedruck gab sie einem das Gefühl für Sinnhaftigkeit. Dieser Händedruck ist nicht mehr. Ich habe Margot vor der Bühne, auf der Bühne und hinter der Bühne erlebt. Sie war ein großes Wunder.“
So der Pianist Igor Levit über die große Margot Friedländer an einem Abend, der eigentlich keine Trauerfeier werden sollte – obwohl er dem deutschen Kino gewidmet war –, der Gala des Deutschen Filmpreises. Es war etwa zur Hälfte der Veranstaltung mit ihrer notorischen Überlänge. Hinter der Bühne habe er, Levit, der eigentlich nur ein paar Takte zum Thema Filmmusik sagen wollte, von Friedländers Tod erfahren, berichtete er dem noch ahnungslosen, weil mitten in einer auf launig getrimmten Revue befindlichen Publikum – „und jetzt kann ich den ganzen Schmu eigentlich wegwerfen“. Stattdessen improvisierte Levit eine Rede, die die Holocaust-Überlebende und verstorbene Botschafterin für eine bessere Menschheit angemessen würdigte. Am Ende kämpfte er, dessen liebste Klaviatur das Pathos ist, auf Twitter und im Konzertsaal, mit den Tränen.
Später trat auch Wolf Biermann auf, mit einer Gitarre, besser gestimmt als der Mann. Feinfühlige Beobachter konnten den Eindruck gewinnen, er gönne Levit den Vorrang als erster Trauerredner nicht. Auch er habe Friedländer oft vor und hinter der Bühne erlebt, betonte Biermann, und sie oft besuchen dürfen. Dann erinnerte er daran, dass er selbst bald neunzig Jahre alt sei, „ein Juden- und Kommunistenkind“, das seit Jahrzehnten als Mahner auftritt. Brachte sich hier jemand, womöglich unterbewusst und ganz automatisch, als neue Margot Friedländer in Stellung?
Biermann sang sein berühmtes Lied „Ermutigung“, das er einst dem „großen Kleindichter“ Peter Huchel vorgespielt habe, was er ganz ohne Arroganz des „kleinen Großdichters“ sage. „Du, lass dich nicht verhärten / in dieser harten Zeit“ – heute meinen diese Zeilen natürlich nicht mehr die Stasi, sondern die aktuellen Geißeln der Menschheit. Als da wären: Donald Trump, die AfD und eine im Regierungswechsel stecken gebliebene Novellierung der Filmförderung. Ein bisschen vielleicht noch der neue Kulturstaatsminister Wolfram Weimer in Reihe eins, Mitte, aber dazu später mehr.
Die unfeinen Worte sprach Biermann nicht aus, das überließ er anderen, wenigen. Irgendwann ganz am Ende rief einer indigniert: „Nennen wir sie doch beim Namen: die AfD!“ Meist wurde nämlich raunend gemahnt, man dürfe es nicht wieder so weit kommen lassen, nie wieder ist jetzt und so weiter. Was ja auch stimmt. Als mantraartig vorgetragene Selbstvergewisserung – wir die Guten, die die Bösen – hatte es bloß a Geschmäckle. Zu Anfang hatte der Moderator Christian Friedel noch gewitzelt, er werde jetzt jeden einzelnen Zuschauer im Saal begrüßen. Man hielt es kurz für möglich. Jeder hat doch heute das als Naturrecht empfundene Bedürfnis, „gesehen zu werden“. Man hätte sich irgendwann, nach der vierundzwanzigsten Dankesrede, gewünscht, es gäbe einen von allen Preisträgern zu unterzeichnenden Vertrag, der vor Beginn der Veranstaltung festlegte, dass man Mama, Papa, seinen Kindern und der Filmcrew dankte – es würde der Dramaturgie des Abends nicht schaden.
Ehrlich empfundene Trauer oder Bewegtheit ist das eine. Pathostheater das andere. Die beiden sind mitunter schwer zu trennen. Bei einer Veranstaltung, auf der ein Zweig der Unterhaltungsbranche von sich selbst gerührt ist, sind die Grenzen besonders fließend. Das ging übrigens nicht nur dem Reporter so. Auch einige Leute im Saal fanden die immer wieder betonte Lähmung – Friedel: „Es ist jetzt sehr schwer, weiterzumachen“ – nicht ganz angebracht. „Da steht eine Preisträgerin auf der Bühne!“, rief eine Frau aus dem Publikum wütend und zeigte auf die arme Dascha Dauenhauer, die für die beste Filmmusik gleich zweimal nominiert war und für „Islands“ gewann. Einsam stand sie da im Schatten der stockenden Show, obwohl es ihr großer Moment sein sollte, das hätte Margot Friedländer sicher nicht gewollt.
Auch Aaron Altaras, Spross einer Familie jüdischer Partisanen, hatte sichtlich genug von der improvisierten Monstranz der Ergriffenheit. „Jetzt zum fröhlichen Teil“, begann er seine Präsentation der Preisträger der besten Tongestaltung, eine leise Ironie in der Stimme. Das war eben gerade keine Herzlosigkeit, sondern ihr Gegenteil: Wer Margot Friedländers gedenkt, sollte auch Freude verspüren – Freude über ein so gewaltiges Leben, über ihre Kraft bis ins biblische Alter von 103 Jahren, ihre schier unglaubliche Menschenliebe. Und schließlich war man hier eben nicht auf dem Friedhof, sondern in einem Musical-Theater am Potsdamer Platz. Die Show musste weitergehen. Und sie ging weiter.
Wenn auch nicht viel weniger pathetisch. Vom vielen Aufstehen und Wiederhinsetzen hatte man allmählich Muskelkater. Auf der Feier hinterher wurde kolportiert, ein bekannter Regisseur aus dem Osten habe geätzt, er habe sich gefühlt wie einst beim Fahnenappell. Nicht schön, nicht ergreifend? Aber die Wahrheit, liebe Freunde. Und die ist ja auch nicht zu vernachlässigen, für den Reporter so wenig wie für die Casterin: An Dorthe Braker wurde für ihr Lebenswerk geehrt, von keinem Geringeren als Dominik Graf, einem der feinsten harten Hunde des Geschäfts, der Thriller so beherrscht wie die Literaturverfilmung. Er zitierte seinen Kollegen Nicolas Roeg („Wenn die Gondeln Trauer tragen“) sinngemäß, oberstes Gebot beim Casting sei die „Wahrheit“, eine zentrale Kategorie in der Kunst. Braker hat wirklich alles gecastet, was seit knapp 40 Jahren im deutschen Kino Rang und Namen hat, von ihrer frühen Arbeit mit Fassbinder über „Go, Trabi, Go“, „Schtonk!“, „Rossini“ und „Der Untergang“ bis zu Grafs eigenem „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“. In ihrer gemessenen Dankesrede erwies sie auch ihrer früh verstorbenen Kollegin Simone Bär die Ehre. Und lobte mit leisem Spott die „Erwägung“ der Filmakademie, den oft unsichtbaren Castern künftig eine eigene Preiskategorie zu widmen.
Derweil sang und tanzte sich Christian Friedel durch eine ganz gute Show mit Schlager-Schlagseite. An den Gefühlen arbeiten die Deutschen noch. Es ist nicht leicht, den richtigen Ton zu treffen zwischen Kitsch und knochentrocken. In der aktuellen Staffel der Gesellschaftssatire „White Lotus“ spielt Friedel einen Hoteldirektor, der immerzu singen möchte, aber nie so richtig darf. Beinahe schien es, als hole er es beim Filmpreis nun nach. Mit Engelsstimme schmachtete er das Kino an, etwas redundant vielleicht. Der Refrain ging: „Kino, Kino, Kino, Kino.“ Aber so funktionieren Mantras eben. Heute nennt man den Versuch der Hypnose seiner selbst und des Universums Materialisation.
Im Prinzip war es für den deutschen Film ein gutes Jahr. Den dritten Teil der „Schule der magischen Tiere“ haben drei Millionen Zuschauer gesehen. Der sensationelle „September 5“, über das Massaker am israelischen Olympia-Team in München 1972, erzählt aus der Perspektive amerikanischer Sportjournalisten, räumte gleich neunmal ab und war damit der einsame Überflieger des Abends, bedacht mit der Lola für Drehbuch, Schnitt, Kamera und Nebendarstellerin Leonie Benesch, zudem für die beste Regie und der Goldenen Lola für den besten Film. Der in Basel gebürtige Regisseur Tim Fehlbaum, Jahrgang 1982, würdigte in seiner Dankesrede die Arbeit der Medien; gerade in Zeiten von „Lügenpresse“-Rufen und Fake News seien sie das wichtigste Instrument zur Bewahrung der Demokratie. Gratuliert hatte ihm der fantastische Edward Berger, der seit Jahren beinahe im Alleingang die Fackel des deutschen Films in der Welt hochhält – „Konklave“, davor „Im Westen nichts Neues“, waren für Oscars nominiert, und nicht bloß in der Kategorie des besten ausländischen Films.
Wie brillant hierzulande Kino gemacht wird, beweist auch Jan-Ole Gersters „Islands“. Der Film – wie „September 5“ übrigens auf Englisch gedreht – ist soeben angelaufen. Jeder sollte ihn sehen, ein stilsicherer Noir unter der Sonne Fuerteventuras mit Sam Riley in der Hauptrolle. In vier Kategorien nominiert, gewann „Islands“ nur für die beste Filmmusik. Er hatte mehr verdient, wurde aber zerrieben zwischen „September 5“ und Mohammad Rasoulofs „Die Saat des Heiligen Feigenbaums“, einem mit deutscher Finanzhilfe heimlich im Iran gedrehten Film über die brutale Repression im Land. Rasoulof war vor einem Jahr spektakulär über Stock und Stein getürmt und hatte den Film in Cannes präsentiert. Auch beim Filmpreis saß er im Saal und nahm die Silberne Lola für den besten Film entgegen. Sein Hauptdarsteller Misagh Zareh, der sich gegen den doppelt nominierten Riley (für „Islands“ und „Cranko“) durchsetzte, war per Video aus dem Iran zugeschaltet. Gegen solche politische Gravitas hat es die pure Kunst, die von nichts als der nackten Menschlichkeit erzählen will, naturgemäß schwer.
In die gleiche Kerbe haute, wenngleich sardonisch, die Schriftstellerin und Brandenburger Verfassungsrichterin Juli Zeh. Sie watschte im Vorbeigang die angeblich hedonistisch-selbstbezogene Popliteratur der Neunzigerjahre ab und lobte die Gegenwart mit den Worten: „Politische Täler sind Gipfelpunkte für die erzählende Kunst.“ Das mag stimmen, aber es liegt eben auch die Gemeinheit darin, alles vermeintlich Unpolitische stiefmütterlich behandeln zu dürfen.
Ansonsten wurde viel gegendert, selbst im Gesang ist das möglich, wie der Schauspieler Daniel Zillmann bewies. Einigen kam der neulich eingeführte Verschlusslaut noch nicht ganz flüssig über die Lippen: „Freundin:innen“, hieß es einmal zur allgemeinen, natürlich eher unterschwelligen Erheiterung.
Vicky Krieps, an der Seite des Regisseurs Florian Gallenberger die neue Präsidentin der Filmakademie, tänzelte allerliebst in flachen Schuhen und sprach dabei von tiefen Gräben, Brecht und finsteren Zeiten. Gallenberger forderte Anreizmodelle wie in Frankreich: Steuererleichterungen und Investitionsverpflichtungen. Das ging an die Adresse des neuen Kulturstaatsministers Wolfram Weimer, gerade mal ein paar Tage im Amt, aber schon übel beleumundet. Der Mann hatte wahrscheinlich seinen ersten großen Termin und musste schon allerlei neuen Tadel über sich ergehen lassen. „Über das mit der Freiheit sprechen wir noch mal, aber nicht jetzt“, beschied ihm etwa die Schauspielerin Karoline Herfurth von der Bühne herab. Man konnte das, ohne dem Gegenüber die Gelegenheit zur Erwiderung zu geben, für unfein halten.
Weimer machte seine Sache ganz gut. Mit lockerer Gravitas bekannte er seine Liebe zur Kunst im Allgemeinen und zum Film im Besonderen. Er betonte, die beste Kulturpolitik sei eine, die ermögliche und nicht gängele. Unter seiner Ägide werde sie, entgegen anderslautender Befürchtungen, „sicher nicht nach rechts rutschen, aber eben auch nicht nach links“. Und: „Der einzige Kulturkampf, den ich führen werde, ist der Kampf für die Kultur.“ Dabei umwehte ihn sanft der Kunstnebel, als trete hier Mephisto auf. Vielleicht waren seine Schillerzitate eine Spur oldschool, aber das war es auch schon. Auf der After-Show-Party kam es dennoch vor, dass bekannte Schauspieler auf die fröhliche Bemerkung, dass Weimer vielleicht doch nicht der Teufel persönlich sei, wortlos abgingen. So viel zu den von Krieps beschworenen Gräben, die sich durch die Gesellschaft ziehen. Manchmal ist es doch nicht nur an der Politik, sondern an jedem einzelnen, sie zuzuschütten statt zu vertiefen.
Eine der charmantesten Dankesreden kam von Liv Lisa Fries, die für ihre Rolle in Andreas Dresens „In Liebe, Eure Hilde“ die Lola als beste Hauptdarstellerin bekam. Ihre Worte fassten den Geist des Abends gut zusammen, so wie er war und wie er sein sollte: „Ich widme diesen Preis der Liebe, die Kraft, die uns trägt, wenn es ernst wird. Und es ist ernst“, sagte sie. „Es braucht unser Engagement füreinander, für Mitgefühl, Weichheit, Frieden und Freiheit.“
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