Das Genre der populären Biografie ist seit rund 20 Jahren zur beliebtesten Textform in der Geschichtsschreibung über die Kritische Theorie geworden. Es begann mit Detlev Claussens Abhandlung über Theodor W. Adorno, Untertitel „Ein letztes Genie“ (2003). Zehn Jahre später traf es den lebenden Jürgen Habermas, dessen Vita der auch als Adorno-Biograf hervorgetretene Stefan Müller-Doohm 2014 niederschrieb.

Auf Siegfried Kracauer (2016 biografisiert durch Jörg Später) folgte 2019 Philipp Lenhards Biografie über Friedrich Pollock, 2024 schrieb Philipp Felsch mit „Der Philosoph: Habermas und wir“ eine weitere Habermas-Biografie. Und über Walter Benjamin legte Lorenz Jäger 2017 als Konterpart zu seiner 2003 erschienenen, von tiefer Abneigung zeugenden Adorno-Biografie eine wohlwollende Lebensbeschreibung vor. Mit Lenhards Buch „Café Marx“, das Lebensgeschichten von selten in den Blick genommener Randfiguren des Instituts für Sozialforschung in Erinnerung ruft, erschien im vergangenen Jahr die bislang jüngste biografische Arbeit.

Solche Biografie-Flut zeugt von einer Krise der historischen Erfahrung. Nur weil sie endgültig als Vergangenes und nicht als lebendiges Element der Gegenwart erscheint, kann die Kritische Theorie samt ihrem Personal abgearbeitet werden wie das Inventar einer kulturgeschichtlichen Ausstellung.

In diesem Kontext schlägt die aktuelle Studie des langjährigen Hannoveraner Buchhändlers und Exilforschers Georg Wiesing-Brandes über das legendäre „Pariser Adressbuch“ von Walter Benjamin eine Schneise. Als biografisches Kompendium über Benjamins Beziehungsnetz ist die Edition schon jetzt eine der Sachbuch-Sensationen des Jahres. 2006 hatte die Berliner Kunsthistorikerin Christine Fischer-Defoy, die auch Adressbücher Hannah Arendts und Marlene Dietrichs historisch erschlossen hat, bereits einen Versuch unternommen, dieses für das Verständnis von Benjamins Exilbiografie bedeutende Dokument zu edieren. Die Lückenhaftigkeit und Fehlerhaftigkeit dieser Publikation nimmt Wiesing-Brandes zum Anlass, es nicht nur noch einmal zu versuchen, sondern eine angemessenere Weise zu finden, das Material zu präsentieren.

Ursprünglich enthielt das Adressbuch, ein in grünes Leder gebundenes Bändchen, das Benjamin zu Beginn seines Pariser Exils im September 1933 in einer Papeterie erworben hatte, nur 25 Einträge mit Namen von Bekannten, Kontaktpersonen und völlig unbekannten Einzelnen. Je mehr Namen hinzukamen, desto vielfältiger wurde das Material, auf dem sie notiert wurden: lose Blätter, Speisekarten, Postkarten, Einladungskarten für Vernissagen und Veranstaltungen dienten je nach Gelegenheit als Orte für Notizen.

Auf diese Weise spiegeln nicht nur die Namen selbst, sondern auch die Form ihrer Notation wie ein Mosaik Aspekte von Benjamins damaliger Lebensgeschichte. Postkarten von Kracauer, die Rückseite von Menükarten und Rezensionsexemplare von Büchern, die Benjamin zugesandt wurden, verwendete er für die Niederschrift von Adressen. Nicht umsonst nennt Wiesing-Brandes die Recherchen, die für die Zusammenstellung seines Bandes nötig waren, eine „detektivische Arbeit“. Unternommen hat er sie weniger im Bemühen um archivarische Vollständigkeit, sondern, um dem Gemeinplatz von der „Isoliertheit“ und „Vereinsamung“ entgegenzutreten, in der Benjamin in seiner Exilzeit gelebt habe.

Ein auf Dauer gestelltes Provisorium

Zugleich widerspricht das – benutzerfreundlich alphabetisch sortierte – Buch von Wiesing-Brandes aber auch der in der Exilforschung immer beliebteren Phrase von den „kommunikativen Netzwerken“, in denen sich die Exilanten zwar prekär, aber wohlorientiert und versiert bewegt hätten. Benjamins Adressbuch macht demgegenüber die Exilexistenz als auf Dauer gestelltes Provisorium lesbar, das geprägt war von der Ungewissheit darüber, wer und was künftig wichtig oder unwichtig, zuverlässig oder unzuverlässig sein würde.

Konsequent wird in Wiesing-Brandes’ Edition, die ergänzt wird durch Dokumente aus der Zeit nach und vor den Pariser Jahren sowie durch Exkurse zur Geschichte des Instituts für Sozialforschung, die überkommene Hierarchie von Groß und Klein, Bedeutendem und Unbedeutendem relativiert. Erwartungsgemäß werden die großen zu erwartenden Namen ausführlich und akribisch kommentiert. Zu den bedeutenden Erträgen, die das Buch gleichsam nebenher abwirft, betrifft die bislang überlieferte Benjamin-Gedächtnis-Konkurrenz zwischen der mit „Benji“ eng befreundeten Hannah Arendt und den Angehörigen des Instituts für Sozialforschung. Sie scheint eher eine historiografische Konstruktion zu sein, als dass sie Benjamins Lebenserfahrung im Exil entspräche.

Benjamins Zeit in Paris war emigrantentypisch von unterbrochenen, immer wieder abgerissenen und erneut aufgenommenen Kontakten zu untereinander teils zerstrittenen Personen bestimmt, die trotz unterschiedlicher Einstellungen in Benjamin so etwas wie eine Konvergenz fanden. Aus den Einträgen des Adressbuchs, wie Wiesing-Brandes sie rekonstruiert, ließen sich zahlreiche Gruppenbiografien und Institutionengeschichten des Exils entwickeln. Etwa eine Geschichte der Association Internationale des Écrivains pour la Défense de la Culture, die 1935 beim I. Internationalen Schriftstellerkongress in Paris gegründet wurde. Ihr waren politisch und ästhetisch so unterschiedliche Autoren verbunden wie Lion Feuchtwanger, Louis Aragon, Thomas Mann, Benjamin, Bertolt Brecht und andere. Was sie einte, war ihre Überzeugung, Spuren der Zivilisation vor der NS-Barbarei zu retten.

Auch das 1937 von dem mit Benjamin befreundeten Georges Bataille gegründete Collège de Sociologie und der internationale Kreis um Brecht, der für Benjamins Kunstphilosophie bedeutende russische und osteuropäische Schriftsteller, Theaterleute, Film- und Fotokünstler (wie etwa den bulgarischen Fotografen Slatan Dudow) versammelte, gehören zu den Assoziationen und Gruppen, an die das Adressbuch erinnert.

Walter Benjamins Sohn

Nicht zuletzt ruft es auch die Lebensgeschichte von Stefan Benjamin in Erinnerung, dem 1918 geborenen Sohn von Benjamin und der österreichischen Journalistin und Übersetzerin Dora Sophie Kellner, die von 1917 bis 1929 mit Walter Benjamin verheiratet war. Stefan Benjamin hatte danach nur sporadischen Kontakt zum Vater, ging 1939 ins englische Exil, wurde 1940 in London als „feindlicher Ausländer“ verhaftet und nach Australien deportiert. 1941 wurde er nach England auf die Ilse of Man zurückgebracht. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs betrieb er einen Handel mit antiquarischen Büchern.

Wiesing-Brandes, der im Hannoveraner Sprengel-Museum bis 2023 die gut sortierte „Merz-Buchhandlung“ führte, lässt all diese biografisch-geistigen Zusammenhänge und Nicht-Zusammenhänge aufleuchten, ohne sie nur zu addieren, aber auch ohne den Versuch zu unternehmen, eine Großerzählung daraus zu entwickeln. So hat sein Buch die dem Gegenstand angemessene Form einer fragmentarischen Sammlung von Epitaphen, Randnotizen und Gedächtniseinsprengseln, die die Exilerfahrung besser spiegeln als vorschnelle Homogenisierungen. Benjamin, der Schnipsel, Kritzeleien und detektivisches Spurenlesen liebte, hätte das gefallen.

Georg Wiesing-Brandes: Walter Benjamin. Das Pariser Adressbuch. Eine Biografie des Exils im Spiegel. Nimbus, 800 Seiten, 48 Euro

Der Schriftsteller Walter Benjamin wurde 1892 in Berlin geboren und nahm sich 1940 auf der Flucht vor den Nazis an der spanischen Grenze in Portbou das Leben. Mit Schriften wie „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ und dem „Passagen“-Werk gehört Benjamin zu den berühmtesten Geistesmenschen des 20. Jahrhunderts. Er war seit den 1920er Jahren vielfältig als Übersetzer, Kulturkritiker und Feuilletonist tätig (u.a. für die „Literarische Welt“ von Willy Haas) und ging als Jude 1933 zunächst nach Ibiza, dann nach Paris in die Emigration. Sein jetzt erstmals gründlich ediertes und als Personenlexikon kommentiertes Adressbuch aus den Jahren Exils ermöglicht wertvolle Einblicke nicht nur in Benjamins Emigrantenbiografie.

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