Es war der große Tag des französischen Kinos. Am Dienstagabend die feierliche Eröffnung der Filmfestspiele in Cannes, der rote Teppich, der Glamour. Am Morgen Gérard Depardieu (76), einst eine Art Nationalheiliger der französischen Filmindustrie, preisgekrönter Schauspieler, der in über 200 Filmen mitgespielt hat, der wegen sexueller Übergriffe gegen zwei Frauen schuldig gesprochen wurde.
Das Pariser Strafgericht hat den 76-Jährigen, der zur Urteilsverkündung nicht erschien, zu 18 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt und ist damit der Forderung der Staatsanwaltschaft gefolgt. Sein Anwalt hat angekündigt, dass Depardieu in Berufung gehen wird.
Wer den dreieinhalb Tage währenden Prozess im März verfolgt hatte, den dürfte das Urteil nicht überrascht haben. Es war ein gesellschaftliches Lehrstück, bei dem die neue Welt der alten den Prozess machte. Sogar Depardieu räumte ein, dass sich die Zeiten geändert hätten. Trotzdem stritt er alle Vorwürfe ab. Auch seine langjährige Freundin und Schauspielerkollegin, Fanny Ardant, die eine flammende Rede auf das Genie Depardieu gehalten hatte, vermochte ihm keine mildernden Umstände zu verschaffen.
Die Richter haben bei der Urteilsverkündung klargemacht, dass sie Depardieus Argumente schlicht für unglaubwürdig erachten. Um nicht zu stolpern, um einen Sturz zu verhindern, muss man keine Frau fest mit beiden Händen in den Griff nehmen und sie an den Geschlechtsteilen betatschen. Die Aussagen der Klägerinnen waren kohärent und überzeugend. Amélie, Szenenbildnerin bei den Dreharbeiten des Films „Les Volets Verts“ (Die grünen Fensterläden), war auf der Suche nach passenden Sonnenschirmen, als Depardieu ihr zugerufen haben soll: „Komm und fass meinen dicken Sonnenschirm an. Ich steck ihn dir in deine Pussy.“
Junge Frauen am Anfang ihrer Karriere
Während der Gerichtsverhandlung war Depardieu außerdem der Satz rausgerutscht, dass Grapschen doch nicht in die Kategorie sexuelle Aggression falle. Die traumatisierten Frauen, die vor Gericht aussagten, manche in Tränen, hätten ihn eines Besseren belehren können. Vulgäre Sprüche, Begrapschen, Tatschen, Kneten gehörten bei Dreharbeiten mit Depardieu offensichtlich jahrelang zum Arbeitsalltag. Die meisten Frauen schwiegen, um die Dreharbeiten nicht zu stören oder ihre Karriere nicht zu gefährden.
Wer die jungen Frauen im Zeugenstand beobachtete, musste sich zudem die Frage stellen, warum sich Depardieu vorwiegend an Praktikantinnen, Assistentinnen oder jungen Schauspielerinnen vergriff. Für die Anwältinnen der Verteidigung war das seine Strategie: nicht gleichgestellte Kolleginnen zu belästigen, sondern junge Frauen, oft am Anfang ihrer Karriere, manche in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Depardieu konnte sich sicher sein, dass unterlegene Frauen ihn nicht anzeigen würden. Es sind dieselben Machtverhältnisse und soziale Mechanismen, die auch Depardieus Anwalt zu nutzen versuchte, indem er die Klägerinnen vor Gericht verbal attackierte, sie schreiend übertönte und als „käufliche Hysterikerinnen und Lügnerinnen“ hinstellte. Es gehörte offensichtlich zu seiner Verteidigungsstrategie, die Opfer selbst vor Gericht demütigen zu wollen.
Das Depardieu-Urteil markiert einen Wendepunkt in Frankreich, eine Zeitenwende. Man hat bisher immer nur die eine Seite der Medaille sehen wollen, die schillernde Vorderseite der Filmbranche. Die MeToo-Welle, die 2017 aus den USA nach Europa hinüberschwappte, traf im Pariser Milieu auf eine Mauer des Schweigens. Man wollte kein strukturelles Problem der Unterhaltungsindustrie sehen und hätte sexuelle Übergriffe gern als rein amerikanisches Phänomen abgetan. Frauen wurden nicht ernst genommen, Missbrauchsvorwürfen ist man lange nur schleppend nachgegangen.
Regisseure, die wegen sexueller Gewalt angezeigt worden waren, lud man weiter zu Festspielen ein und zeichnete sie mit Preisen aus. Schwere Anmache schien weiter zum guten Ton zu gehören. Man versteckte sich hinter höfischen Traditionen und einer libertären Kultur, um inakzeptables Verhalten kleinzureden. Die „Obsession mit der Verführung“ nennt das die „New York Times“.
„Systemisch, endemisch und hartnäckig“
Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss kam kürzlich zu dem Schluss, dass sexuelle Belästigung und Gewalt in der französischen Filmindustrie immer noch „systemisch, endemisch und hartnäckig“ seien. Von einem „Fleischwolf“, der Menschen verschlinge, sprach ein Abgeordneter nach der Anhörung von über 140 Betroffenen und Vertretern der Branche.
Nach der Urteilsverkündigung zeigten sich die Klägerinnen am Dienstag erleichtert, die Verteidigung zufrieden: „Es handelt sich nicht nur um den Sieg meiner Mandantin, sondern um den Sieg aller Frauen“, sagte Carine Durrieu Diebolt, Anwältin einer der Klägerinnen.
Depardieu war bei der Urteilsverkündigung nicht dabei, weil er zurzeit für Dreharbeiten auf den Azoren ist. Regisseurin des Films ist seine Freundin Ardant. Sonst will niemand mehr mit ihm arbeiten. Was seine Karriere als Schauspieler betrifft, ist die Schlussklappe geschlagen. Nur vor Gericht wird es noch etwas weitergehen. Depardieu droht demnächst ein Verfahren wegen Vergewaltigung.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.