Es ist auch schon wieder ein halbes Jahrhundert her, dass ein langhaariger Künstler mit dem feierlichen Namen Christo an den Fassaden der Berner Kunsthalle emporkletterte und sie bis übers Dach mit Planen verhüllt hat, dass es aussah, als habe sich der im klassizistischen Bürgerstil thronende Bau in eine monumentale Umkleidekabine zurückgezogen.
Damals war man wirklich auf alles gefasst. In halb Europa zogen Studenten mit linken Parolen durch die Städte, was sich angesichts der juvenilen Wählergunst für die AfD heute wie ein Märchen anhört. Aber es war so, und die Künstler und Künstlerinnen skandierten mit. Der Konzeptkünstler Michel Heizer ließ das Trottoir vor der Kunsthalle zertrümmern. Drinnen spritzte der Bildhauer Richard Serra heißes Blei an die Wand. Wehrhafte Eidgenossen fuhren mit dem Traktor vor. Und die Appenzeller Zeitung meldete: „Die Antwort auf Mist: Mist“.
Es war die Sturm-und-Drangzeit des legendären Ausstellungsmachers Harald Szeemann. Er gab Christo das Verhüllungs-Permit und er versammelte nur Monate später Straßenaufreißer und Bleispritzer in seiner berühmten Ausstellung „When Attitudes Become Form.“ Eine explosive Mischung, wie er selbst bekannte: „In einigen Fällen sind es nicht rein visuelle Erfahrungen, die den Wunsch, Werke zu kreieren, ausgelöst haben. Hippietum, Rockerexistenz, der Gebrauch von Drogen mussten sich früher oder später auf das Verhalten einer jüngeren Künstlergeneration auswirken.“
„Happening“, sagte man seinerzeit dazu. Kann man Happening wiederholen? Abermals ist die Berner Kunsthalle verpackt oder verhüllt oder besser eingetütet worden, jedenfalls auf Zeit hinter grob zusammengenähtem Sackleinen verschwunden. Wer auf der steilen Kirchenfeldbrücke über die grünblaue Aare spaziert, sieht die Stoffmassen, die etwas schlaff vom Dach hängen, schon von Weitem. Man denkt einen Augenblick an eine Schutzmaßnahme bei der Fassadenrenovierung. Da es aber die Kunsthalle ist, muss es sich um Kunst handeln. Also heißt der neue Christo Ibrahim Mahama, ist 1987 in Ghana geboren und kennt die Erstverpackung des Hauses nur vom Hörensagen und von ein paar Abbildungen. Dafür kann er nichts. Und es ist ganz allein unsere Schuld, dass wir schon vor 57 Jahren die Kirchenfeldbrücke entlangspaziert kamen, als Christo seine famose Weltverpackungskarriere begann, und nun mit gelinder Verwunderung registrieren, wie die Karriere Schule macht.
Insektenbefall als Jute-Problem
Natürlich hat die neuerliche Kunsthallen-Verkleidung nichts mehr mit der Ästhetik der Happening-Ära zu tun. Christos Idee, ein architektonisches Stadtzeichen hinter flutenden Stoffmassen verschwinden zu lassen und es dabei mit visueller Bedeutung aufzuladen, lässt sich nicht so ohne Weiteres beerben. Entsprechend muss der Wiederholungsfall begründungstechnisch angepasst werden. Mahamas Entwurf, heißt es, sei als kritischer Kommentar zum eurozentrischen Fokus der Kunsthalle zu verstehen und unterstreiche ihre Rolle bei der Gestaltung des westlichen Kanons zeitgenössischer Kunst.
Liegt es einfach an den 57 Jahren Verspätung, dass wir das nicht ganz verstanden haben: Wenn Christo verhüllt, bedient er den westlichen Kanon? Wenn der Mann aus Ghana seine Jutesäcke aufhängt, ist es kritischer Kommentar? Ist es möglicherweise nicht einfach so, dass die Kunst ihr Moderne-Schicksal nicht mehr loswird, immerzu Kunst über Kunst über Kunst machen zu müssen? Auf Bilder kann man ja mit Bildern reagieren. Man kann einen blühenden Baum malen, als sei noch nie ein blühender Baum gemalt worden. Und selbst strenge Parteigänger des konstruktiv konkreten Fachs haben sich bei der Verteilung ihrer bunten Rechtecke, Streifen und Dreiecke immer neue Varianten ausdenken können. Aber seit die Kunst mehr und mehr auf Aktion, Ereignis, Performance setzt, verfilzen die ästhetischen Behauptungen zu einem Geflecht ständiger Wiederholung. Zumal, wenn sie als bewusst inszenierter Regelverstoß erlebt werden soll.
Die Mittel der Formauflösung und Formüberbietung, mit denen die Kunst zum weltweit gültigen Idiom der Moderne geworden ist, bedingen immer schärfere Reaktionen aufeinander. Dabei verbrauchen sich die Effekte, mit denen Aufmerksamkeit generiert wird, verflüchtigen sich in einem Resonanzraum, in dem die Kunst zu einem selbstbezüglichen System verschmilzt. Es ist, als besorgte man sich Tickets auch noch für den dritten und vierten Abend nach der Premiere. Vielleicht ist die Tagesform des Heldentenors noch etwas imposanter, aber die Inszenierung ist dieselbe.
Und imposant an der Reprise der Kunsthallen-Verhüllung ist dann doch nur die zugehörige Selbsterzählung. Sie beginnt mit den Jutesäcken, die der Künstler „in kollaborativer Arbeit zusammensetzt“, also zusammensetzen lässt. In ihnen wurden ursprünglich Kakaobohnen transportiert, „die seit Hunderten von Jahren das wichtigste Material für Schweizer Chocolatiers sind“. So werfe Mahamas Sackeinsatz „Fragen auf, die einerseits die aktuellen Arbeitsbedingungen und ihre ökologischen Auswirkungen im globalen Kakaohandel erörtern, und andererseits den kolonialen Fußabdruck der Schweizer Handelsbeziehungen zu Ghana ansprechen“. Was ja schon eine ganze Menge ist. Kommt hinzu, dass auch Jutesäcke mit Problemen zu kämpfen haben. „Insektenbefall kann dazu führen, dass sie manchmal nur einmal verwendet werden können“. Dann bleibt in der Tat nur ihr Recycling an der Kunsthallen-Wand.
Man sollte also die Christo-Bilder, die man in der Erinnerung mitgebracht hat, schon bei der Annäherung an die ghanaische Jutesack-Lektion schleunigst löschen. Es hat auch damals eine tiefsinnig kunstkritische Essayistik das Kunsthaus mit dem locker fallenden Kleid bedacht. Aber zu erklären gab es nichts, nur zu schauen. Für die einen „Mist“, für andere ein unvergessliches Seherlebnis. Gut möglich, dass den Jüngeren die Neuverkleidung des Hauses umso eindrücklicher erscheint, als sie nun anders als zu Vaters oder Großvaters Zeiten von einer Gebrauchsvorschrift begleitet wird, die sich so einsichtig liest wie die Bauanleitung eines Ikea-Bords. Dass sie bei der Herkunft des Künstlers und dem Bekenntniszwang des aktuellen Kunstbetriebs nicht anders als streng postkolonial ausfallen kann, versteht sich von selbst.
Drittverhüllung zu erwarten
Nun ist es leider so, dass die volkspädagogische Unterweisung in Sachen antiimperialistischer Jutesack-Verwendung nicht ganz den ästhetischen Tatsachen entspricht, um die es bei einem Projekt der Kunsthalle Bern doch wohl auch geht. Das Ganze sieht ein bisschen elend aus, notdürftig, nomadenmäßig, dass man sich gleich rechtschaffen schuldig fühlt, beim verpackten Kunsthaus immer nur an die Eleganz des Christo’schen Originals gedacht zu haben und nicht ans westkulturell bedingte Schicksal der ghanaischen Arbeiterklasse. Vielleicht bleibt ja der aktionistischen Kunst gar kein anderer Weg, als sich mit runderneuerten Botschaften im unendlichen Zitatenraum zu behaupten, in dem sie gefangen ist. Ganz ohne Verlusterfahrung freilich stützen sich Ideen nicht auf Ideen.
Ibrahim Mahamas Schweizer Lektion hat gewiss ihre eigene Würde, aber die Kunsthallenverpackung bleibt Kunsthallenverpackung, ob das Haus hinter aufgeschnittenen Cacao-Bohnen-Säcken verschwindet oder von Christos Planen und ihrem weichen Schwung modelliert wird. Und so, wie wir den Kunstbetrieb kennengelernt haben, dürfen wir getrost davon ausgehen, dass in irgendeinem internationalen Atelier längst die Drittverhüllung mit ideologischem Update vorbereitet wird.
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