Martyna Linartas lehrt an der Freien Universität Berlin und an der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Koblenz. Im Zoom-Gespräch warnt die promovierte Politikwissenschaftlerin vor der schleichenden Verwandlung Deutschlands in eine Erbengesellschaft. Sie analysiert, wie Leistung entwertet, Vermögen vererbt und Ungleichheit zementiert wird – und plädiert für eine Steuerpolitik, die diesen Trend endlich umkehrt.
WELT: Ihr Buch heißt „Unverdiente Ungleichheit“. Was bedeutet für Sie „unverdient“?
Martyna Linartas: Für mich geht es bei dem Begriff „unverdient“ um das über Jahrzehnte hinweg gesponnene Narrativ, dass Ungleichheit verdient sei, also immer das Ergebnis einer persönlichen Leistung. Früher war es der Wille Gottes, der legitimierte, wenn es Ungleichheit in der Bevölkerung gab, jetzt ist es die Leistung. Ich verwende den Begriff der „unverdienten Ungleichheit“ in der Tradition zweier großer Werke: einmal in Anlehnung an John Stuart Mills Begriff des „unverdienten Einkommens“ in der Mitte des 19. Jahrhunderts und zweitens in Anlehnung an den Begriff des „unverdienten Vermögens“ des Soziologen Jens Beckert. Beide sprachen davon in Bezug auf Erbschaften.
WELT: Was ist an der Leistungserzählung falsch?
Linartas: Ungleichheit hat sehr viel mit strukturellen Faktoren zu tun, also Faktoren, für die die Einzelnen nichts können. Wenn wir uns wirtschaftliche Ungleichheit anschauen, dann betrachten wir die Schere zwischen Arm und Reich – in meiner Forschung befasse ich mich vor allem mit Vermögen. Mit Blick auf die Einkommensschere spielt Deutschland im Mittelfeld der Industrieländer, aber wir haben eine groteske und obszöne Vermögensungleichheit. Wenn man sich Vermögen anschaut, sind immer zwei Teile entscheidend: einerseits das Vermögen, das man sich im Laufe des eigenen Lebens aufbaut, und andererseits das aus Erbschaften und Schenkungen bestehende Vermögen, was einem unverdientermaßen in den Schoß fällt. Erbschaften und Schenkungen machen mehr als die Hälfte aller Vermögen aus. Das heißt, dass Erbschaften nicht nur irgendeine, sondern die Hauptrolle spielen, wenn es um die große und wachsende Ungleichheit in Deutschland geht.
WELT: Sie schreiben, dass sich Deutschland, was die Vermögensungleichheit betrifft, auf dem Niveau Mexikos bewegt. Zwei Familien besitzen hier mehr als die gesamte ärmere Hälfte der Bevölkerung. Wie kann das sein? War das schon immer so oder hat sich das Problem in den vergangenen Jahren verstärkt?
Linartas: Deutschland war nicht immer so extrem ungleich, ganz im Gegenteil. Wir hatten eine Phase, in der der Anteil von Erbschaften und Schenkungen nicht bei über 50 Prozent lag, sondern nur bei etwa 20 Prozent. Wir hatten also durchaus eine Phase, in der man von einer sogenannten Leistungsgesellschaft sprechen konnte. Und wir hatten Zeiten, in denen der sogenannte Gini-Koeffizient – der bekannteste Index für Ungleichheit – für Vermögen nicht bei 0,83 lag (1 würde bedeuten, eine Person hat alles), sondern sehr weit darunter, bei etwa 0,6. Das hat sich extrem verändert. Wissenschaftliche Arbeiten zeigen, dass diese Veränderungen mit der neoliberalen Steuerpolitik zusammenhängen. Die Vermögensteuer wurde ausgesetzt. Die Erbschaftsteuer ist löchriger als der Schweizer Käse. Auch die Spitzeneinkommen wurden immer weniger besteuert, was heißt, dass Menschen mit besonders hohen Einkommen nochmals mehr Vermögen aufbauen können als der Rest. Deswegen geht die Schere immer weiter auseinander. Wir waren nicht immer so ungleich, sondern sind es geworden. Das Positive daran ist allerdings, dass ein politisches Problem auch politisch gelöst werden kann – etwa durch eine andere Steuerpolitik, die Ungleichheit reduziert.
WELT: Gibt es Länder, die das schon vorteilhaft machen?
Linartas: Aktuell gibt es Länder, die das definitiv besser machen als Deutschland – zum Beispiel witzigerweise die Schweiz. Es heißt ja immer, dass bei einer Einführung der Vermögensteuer die ganzen vermögenden Menschen in die Schweiz abhauen würden. Wenn Deutschland eine Vermögensteuer nach Schweizer Beispiel einführen würde, würden wir Mehreinnahmen von jährlich 73 Milliarden Euro erzielen, nach spanischem Vorbild Mehreinnahmen von etwa 68 Milliarden Euro. Doch statt über die Ländergrenzen hinwegzuschauen, bringt es mehr, in die Vergangenheit zu blicken und festzustellen, dass Deutschland selbst eine Geschichte hat, in der die Vermögen höher besteuert wurden, in der es uns zugleich aber auch wirtschaftlich gut ging.
WELT: Wie erklären Sie sich die großen Widerstände gegen Steuerreformen, wie Sie sie vorschlagen, aus der Bevölkerung und Politik?
Linartas: Zum einen liegt es daran, wie man hier über Steuern spricht. Über Jahrzehnte hinweg haben wir über Steuern als etwas Negatives gesprochen, auch weil es in den Wirtschaftswissenschaften so gelehrt wird. Wenn man sich ein Lehrbuch anschaut, dann werden darin zwei Funktionen von Steuern genannt: dass wir Geld an den Staatskassen brauchen und dass wir Verhalten lenken wollen – man denke an die Tabaksteuer. Aber wir reden überhaupt nicht über die dritte wichtige Funktion, die zur Gründung der Demokratie 1919 herausgestellt wurde: nämlich Ungleichheit zu reduzieren oder kleinzuhalten. Wir müssten es schaffen, über Steuern wieder als etwas Positives, als das wichtigste demokratische Instrument überhaupt zu sprechen. Das tun wir aktuell gar nicht, sondern wir verstehen Steuern immer nur als eine Last. Einige sprechen sogar von Raub. Wir erkennen gar nicht an, dass es Steuern sind, die uns gratis Bildung, eine gute Infrastruktur und ein Gesundheitswesen liefern in einem starken Wohlfahrtsstaat, was uns wiederum zu einer starken Wirtschaftsnation macht. Der Neoliberalismus als Paradigma gehört nach meinem Dafürhalten überwunden.
WELT: Kritiker einer hohen Erbschaftsteuer argumentieren, dass dadurch Arbeitsplätze verloren gingen, ausländische Firmen profitierten, keine Investitionen mehr getätigt würden, mittelständische Firmen ins Ausland abwanderten oder alle gut gebildeten Menschen auswanderten. Schadet die Erbschaftsteuer der deutschen Wirtschaft?
Linartas: Diese Argumente muss man ernst nehmen, weil niemand ein Interesse daran hat, dass Arbeitsplätze verloren gehen und wir aufgrund der Steuerpolitik wirtschaftlich geschwächt werden. Es gibt aber keine empirische Evidenz dafür, dass diese Ängste berechtigt sind. Sie werden von denen geschürt, die ein Interesse daran haben, dass die Steuern gesenkt werden. Der wissenschaftliche Beirat beim Bundesfinanzministerium hat 2012 in einer Studie herausgearbeitet, dass keine relevante Bedrohung von Arbeitsplätzen besteht, wenn man die Erbschaftsteuer stärkt. Die OECD, die alles andere als ein linker Schuppen ist, hat sich 2021 länderübergreifend alle Studien angeschaut und keine gefunden, die den Verlust von Arbeitsplätzen bestätigen würde. Was das Wegziehen angeht: In den USA zum Beispiel ist die Erbschaftsteuer nicht an den Wohnsitz, sondern die Staatsbürgerschaft gekoppelt. Das hatten wir in Deutschland früher auch. Wenn ich 1919 deutsche Staatsbürgerin war, hier meine Bildung und die Infrastruktur genossen habe, dann war es nur fair und gerecht, dass ich zu dem Staat, der mich als Mensch groß gemacht und mein Unternehmen ermöglicht hat, meinen fairen Anteil zahle. Seit 1972 hat Deutschland eine starke Wegzugbesteuerung, an der sich andere Länder wie Norwegen ein Beispiel nehmen.
WELT: Am „Trickle-Down-Effekt“, also der Annahme, dass das Vermögen der Reicheren sich positiv auf die Ärmeren auswirkt, ist also nichts dran?
Linartas: Der Trickle-Down-Effekt wurde besonders in den USA propagiert und kam dann zu uns herübergeschwappt. Er geht davon aus, dass man die Steuern an der Spitze möglichst senken sollte, damit die Unternehmen und die Reichen mehr Geld zur Verfügung haben, das sie in die Wirtschaft und in Arbeitsplätze investieren können. Theoretisch klingt das schlüssig und interessant, empirisch ist es aber nicht zutreffend. David Hope und Julian Limberg von der London School of Economics haben sich in einer Studie 18 OECD-Länder über 50 Jahre hinweg angeschaut und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass der Effekt von Steuererleichterungen auf das Wirtschaftswachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen von null nicht zu unterscheiden war. Er hatte auf die Wirtschaft keinen positiven Effekt. Das Einzige, was man nachweisen konnte, war, dass die Schere zwischen Arm und Reich gewachsen ist. Der Trickle-Down-Effekt ist ein Mythos.
WELT: Was entgegnen Sie Kritikern, die anmerken, dass die Erbschaftsteuer eine Doppelbesteuerung ist?
Linartas: Es ist üblich, dass wir Dinge mehrfach besteuern. Wenn ich einkaufen gehe, zahle ich auch auf mein Einkommen, das ich erarbeitet habe, eine Einkommenssteuer, und dann noch eine Mehrwertsteuer. Der Bäcker, der mir die Brötchen verkauft, hat auf seine Produkte auch Steuern gezahlt. Wenn man dieses Argument ernst nimmt, müsste man als Erstes die Mehrwertsteuer kippen.
WELT: Sie kritisieren, dass sich Deutschland von einer Leistungs- zu einer Erbengesellschaft entwickelt habe. Aber wird das Gefühl, dass sich Leistung nicht mehr lohne, durch eine Erbschaftsteuer nicht erst recht verstärkt?
Linartas: Ich würde mir wünschen, dass wir den Blick etwas weiten und das gesamte Steuertableau betrachten. Wir sind ein Hochsteuerland für Einkommen, aber ein Niedrigsteuerland für Vermögen und Vermögende. Das heißt, dass Menschen, die einem normalen Job nachgehen, extrem hohe Steuern zahlen – da steht Deutschland im gesamten OECD-Raum nach Belgien an der Spitze. Wenn es um Vermögensbesteuerung geht, sind wir aber eines der Schlusslichter. Menschen, die ihr hohes Vermögen für sich arbeiten lassen, also passives Einkommen erhalten, bezahlen dafür extrem niedrige Steuern. Für Betriebsvermögen gibt es mittlerweile derartige Steuerkonzepte, dass man fast gar keine Steuern darauf zahlen muss.
Das war vor 30 Jahren noch anders. Es sollte nicht so sein, dass Menschen, die einer Arbeit nachgehen und in diesem Sinne Leistung erbringen, so hohe Steuern zahlen, dass sie sich kein Vermögen aufbauen können, während sich die Vermögen reicher Menschen quasi automatisch vergrößern. Mit Blick auf die aktuelle Regierung sehen wir, dass wir einen gigantischen Bedarf an Steuereinnahmen für etwa Bildung, Infrastruktur und Verteidigung haben. Aber wir holen sie gerade nur von den Leuten, die viel und hart für ihr Einkommen arbeiten. Eine Lehrerin hat eine höhere Steuerquote auf ihr Einkommen als ein Milliardär in diesem Land. Wir sollten uns wieder nach dem wichtigsten Steuerprinzip ausrichten, das wir in Deutschland haben, nämlich dem Leistungsfähigkeitsprinzip. Starke Schultern sollten mehr stemmen.
WELT: Während also viele der Leute, die heute an der Spitze stehen, dort verdientermaßen hingelangt sind, wird das für die kommenden Generationen nicht mehr der Fall sein?
Linartas: Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es gefühlt für die gesamte Gesellschaft eine Etage höher – das ist das, was man in der Soziologie den „Fahrstuhleffekt“ nennt. Alle konnten mehr verdienen, mehr konsumieren und das Wirtschaftswachstum als solches wahrnehmen. Viele waren in der ersten Generation Akademiker. Es war also nicht entscheidend, aus welchem Haushalt sie stammten. Die wenigsten machen sich bewusst, dass das zu Zeiten höherer Steuern war. Unter Helmut Kohl etwa lag der Spitzensteuersatz für Einkommen noch bei 56 Prozent und wir hatten noch eine Vermögensteuer und eine niedrigere Mehrwertsteuer.
In den letzten 30 Jahren hat sich die Steuerpolitik so krass verändert, dass es mittlerweile mehr darauf ankommt, in welche Familie man hineingeboren wird, als was man leistet. Aufstieg durch Leistung wird erschwert. Wir waren mal eine viel stärker ausgeprägte Leistungsgesellschaft und mittlerweile braucht es im Durchschnitt statistisch gesehen sechs Generationen, um es aus der Armut in die Mitte der Gesellschaft zu schaffen. Das nimmt den Menschen die Hoffnung und die Motivation. Wenn ich mich mit Mitte 30 in meinem Freundeskreis umschaue – wer kann es sich da noch leisten, in eine Immobilie zu investieren? Meiner Erfahrung nach sind es nur Freunde, deren Eltern ihnen finanziell unter die Arme greifen, weil man es aus eigener Kraft heraus kaum mehr schafft. Es kann nicht sein, dass man sich in Deutschland nur noch ein Haus leisten kann, wenn man Glück in der Spermalotterie hatte.
WELT: Sie sprechen von einer „Spermalotterie“, weil es meistens Männer sind, die Geld vererben?
Linartas: Beinahe 70 Prozent aller Millionäre sind männlich. Frauen verdienen statistisch nicht nur weniger, sondern erben auch weniger. Daria Tisch vom Max-Planck-Institut hat in einer Studie gezeigt, dass Töchter häufiger Geldvermögen und Söhne Betriebsvermögen vererbt bekommen. Betriebsvermögen ist meistens in der Summe mehr wert und wird steuerlich begünstigt.
WELT: Sie selbst kamen im Alter von zwei Jahren mit ihren Eltern von Polen nach Deutschland – ohne Wohnung, ohne Möbel und ohne Sprachkenntnisse. Anfangs wohnten Sie in einem Obdachlosenheim. Inzwischen haben Sie promoviert, sind erfolgreiche Buchautorin. Ist Ihre eigene Karriere nicht ein Beleg dafür, dass sozialer Aufstieg noch möglich ist?
Linartas: Wir lieben die Geschichten von Gewinnerinnen. Aber wir befragen nicht die Menschen, die es nicht geschafft haben. In meinem Umfeld sehe ich, wie andere Menschen mindestens genauso hart gearbeitet haben wie ich, aber an den entscheidenden Stellen nicht das Glück hatten wie ich oder meine Eltern. Ich kann nur sagen: Schaut bitte nicht nur auf mich und tolle Geschichten, sondern auch auf andere und die Statistiken. Ich habe es nur geschafft, weil es viele Menschen gab, die sich solidarisch gezeigt und mich gefördert haben – das hat im Kindergarten angefangen und sich bis zur Uni durchgezogen. Wenn ich eine dieser Lehrerinnen oder Betreuerinnen nicht gehabt hätte, weiß ich nicht, wo ich heute stünde.
WELT: Für Ihre Doktorarbeit haben Sie 18 Top-Manager, etwa von Thyssen Krupp, Bayer, E.on und Siemens interviewt. Welche Aussagen haben Sie in den Gesprächen am meisten überrascht?
Linartas: Für mich die größte Freude war, zu sehen, dass 80 Prozent aller Interviewten gesagt haben, dass sie die Ungleichheit als ein großes Problem und eine große Herausforderung für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft verstehen. Auch an der Spitze der Wirtschaft ist ein großes Problembewusstsein bereits da. Interessant war auch, zu sehen, dass die Antworten oft unterschiedlich ausfallen. Die Hälfte war gegen eine Stärkung der Erbschaftsteuer. Einige waren unentschieden, aber immerhin ein Drittel hat sich für eine Stärkung der Erbschaftsteuer ausgesprochen. Es kommt darauf an, welchen Werten man die Priorität einräumt, also ob einem die Familie am wichtigsten ist oder Leistung und Demokratie.
Wenn man der Auffassung ist, dass sich Leistung lohnen muss, erkennt man auch an, dass Erbschaften nicht dazu führen dürfen, dass die Spaltung immer größer wird und es zunehmend darauf ankommt, in welche Familie man hineingeboren wird. Diese Entwicklung besorgt auch viele Akteure aus der Wirtschaftselite, die selbst erste oder zweite Generation Akademiker sind. Bei der Vermögensteuer herrschte wiederum absolute Einigkeit: 100 Prozent sind gegen eine Wiedereinsetzung der Vermögensteuer. Genau umgekehrt verhält es sich in der Bevölkerung, wo ein Großteil der Menschen eine Wiedereinsetzung der Vermögensteuer begrüßt, aber gegen eine Stärkung der Erbschaftsteuer ist.
WELT: Sie sehen im Neoliberalismus nicht nur ein wirtschaftliches, sondern auch ein politisches Problem. Inwiefern gefährdet die aktuelle Steuerpolitik die Demokratie?
Linartas: Erstens finde ich es besorgniserregend, dass sich sowohl Menschen in Armut als auch Menschen in der Mitte der Gesellschaft zunehmend von etablierten Parteien abwenden, weil sie sehen, dass nicht Politik für sie gemacht wird, sondern für die Reichen und die großen Konzerne. Es wird Politik für die da oben gemacht. Menschen, die zu den unteren 99 Prozent zählen, haben zunehmend Abstiegsängste. Statt nach oben zu schauen und die fehlende Steuergerechtigkeit für Missstände wie marode Schulen verantwortlich zu machen, treten wir nach unten, als könnten Geflüchtete in erster Linie dafür verantwortlich gemacht werden. Die Zahlen geben das aber nicht her.
Zweitens entfernen wir uns zunehmend von dem Prinzip „Ein Mensch, eine Stimme“ hin zu „Ein Euro, eine Stimme“. Die Lobby des großen Geldes hat Einfluss auf die Gesetze, etwa die Steuerpolitik. Die größte Lobby des Landes ist die Finanzlobby. Drittens gefährdet die Entwicklung zur Erbengesellschaft die Demokratie, da es zunehmend auf den sozioökonomischen Hintergrund ankommt, ob jemand sich ein Vermögen aufbauen kann. Wir beobachten momentan eine Erbengesellschaft, wie wir sie 1919 mit der Weimarer Republik eigentlich verabschiedet hatten. Wir wollten nicht, dass es auf die Familie ankommt. Wir wollten, dass es auf den Beitrag zur Gesellschaft ankommt. Wir wollten Gerechtigkeit im Steuersystem. Das haben wir aktuell nicht. Wir befinden uns im Neofeudalismus und das ist mit einer Demokratie nicht vereinbar.
WELT: Wird das Problem in Deutschland dadurch verstärkt, dass man hier nur ungern über Geld spricht und sich somit ein Problembewusstsein gar nicht richtig bilden kann?
Linartas: Wenn man in den USA die Menschen auf den Straßen fragen würde, ob sie die reichsten Menschen kennen, würden alle sagen: na klar, Elon Musk, Jeff Bezos, Mark Zuckerberg. In Deutschland ist das nicht bekannt. Wenn man hier eine Umfrage starten würde, wer könnte einem auch nur drei Namen nennen? Dafür gibt es viele Gründe: Erstens gab es in Deutschland mal eine Welle an Entführungen von überreichen Menschen. Zweitens hängen viele Geschichten großer Vermögen in Deutschland mit der NS- oder Kolonialzeit zusammen. Und dann ist es hier gang und gäbe, eine gewisse Bescheidenheit zu leben. Es kann sein, dass man an der Kasse eines Ladens neben einem Millionär steht und es nicht erkennt. Es gibt hier kein Geprotze. Als ich mit den Akteuren der deutschen Wirtschaftselite gesprochen habe, sahen die ganz normal aus. In Mexiko hingegen trugen sie goldene Manschettenknöpfe, nach hinten gegelte Haare und maßgeschneiderte Anzüge. Man hat sie oft schon auf große Distanz gerochen, weil sie so ein edles Parfum trugen.
WELT: Stichwort „Neidgesellschaft“: Sollten wir uns nicht besser darin üben, anderen ihren Luxus zu gönnen, als zu schauen, wie wir ihn ihnen wegnehmen?
Linartas: Ich glaube nicht, dass wir eine neidische Gesellschaft sind. Das Spannende ist, dass diese Neiddebatte vor allem in Deutschland geführt wird. Sie wurde Mitte der 80er-Jahre seitens der Union eingeführt, um sich immun zu machen gegen die Steuervorschläge der SPD. Es wurde gesagt: „Ihr seid einfach nur neidisch, ihr gönnt es den Menschen nicht.“ Neid ist eine Todsünde. Gier übrigens auch. Aber es wird immer nur von Neid gesprochen. Der Vorwurf des Neids ist für mich nicht mehr als ein rhetorischer Kniff. Es ist ein Machtinstrument, denn in dem Moment, wo mir Neid vorgeworfen wird, darf ich plötzlich nicht mehr über strukturelle Ungleichheiten und Gerechtigkeit sprechen, sondern muss mich als Person verteidigen. Das finde ich absolut anmaßend und herablassend. Wenn man sich die Entwicklung der Vermögensungleichheit in Deutschland in den letzten Jahren anschaut, dann würde ich sagen, dass die größere Todsünde, um die wir uns kümmern sollten, die Gier und nicht der Neid ist. Wir haben jedes Jahr mehr Milliardäre und gleichzeitig immer mehr armutsbetroffene Menschen.
WELT: Aber wo würden Sie die Grenze ziehen? Ist es nicht eine legitime elterliche Sorge, die eigenen Kinder absichern zu wollen?
Linartas: Ich finde es absolut in Ordnung, seine Kinder absichern zu wollen. Dem wird ja auch hohe Rechnung getragen in unserer Erbschaft- und Schenkungssteuer. Wir haben in Deutschland extrem hohe Freibeträge, die in all den Jahren immer weiter erhöht wurden und mittlerweile dezidiert auch die Immobilie, also das Familienheim umfassen. Das heißt, heutzutage kann man pro Elternteil als Kind alle zehn Jahre 400.000 Euro erhalten plus die Immobilie und keinen Cent Steuern darauf zahlen. Mir geht es überhaupt nicht um die kleineren Vermögen, sondern um den Überreichtum an der Spitze, der Demokratie zerfressend ist.
WELT: Wenn Sie Bundesfinanzministerin wären: Welche drei konkreten Maßnahmen würden Sie morgen umsetzen?
Linartas: Ich würde als Erstes an die Erbschaftsteuer rangehen und die Privilegierung von Betriebsvermögen komplett streichen. Wir haben sie erst seit 1997 und stärker seit 2009 und 2016. Das heißt, sie ist nicht nötig. Es muss immer darauf geachtet werden, dass keine Arbeitsplätze verloren gehen, aber dafür gibt es viele Möglichkeiten, wie zum Beispiel lange Stundungen. Wenn jemand ein neues Unternehmen aufbauen möchte, muss er es zu 100 Prozent finanzieren. Erben sollten zumindest 30 Prozent an Steuern zahlen müssen, um da eine Gerechtigkeit hereinzubringen. Die Freibeträge der Erbschaftsteuer können meinetwegen sogar auf 1 Million Euro hochgesetzt werden, aber nur einmalig im Leben, nicht alle zehn Jahre. Zweitens würde ich eine Vermögenssteuer wieder einsetzen, etwa nach spanischem Modell. Das heißt, unbedingt progressiv gestaltet und meinetwegen auch gerne mit Freibeträgen von 3 Millionen Euro. Als Drittes würde ich die Mehrwertsteuer senken oder ein Grunderbe einführen. Das Grunderbe halte ich für eine revolutionäre Idee aus der Französischen Revolution, die von den renommiertesten Ökonomen auf der ganzen Welt aufgegriffen wird, um nicht nur an der Spitze Vermögen zu besteuern, sondern auch beim Vermögensaufbau von unten zu helfen.
Martyna Linartas: Unverdiente Ungleichheit. Wie der Weg aus der Erbengesellschaft gelingen kann. Rowohlt, 320 Seiten, 24 Euro.
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