Eigentlich sind Autobiografien ein problematisches Genre. Sie sind vielleicht sogar die unehrlichste literarische Form und eitel noch dazu. Die Autobiografie gaukelt dem Leser als Geschichte aus erster Hand einen Wahrheitsgehalt vor, der gerade im verklärten, subjektiven Blick nicht gegeben ist. Sie basiert auf Erinnerungen, teilweise jahrzehntealt, die in der Prosaform zu Fakten werden. Und dann bemüht sich der Autor nicht einmal, die eigene Eitelkeit hinter einem kreativen Anspruch zu verbergen. Trotzdem finden sie genügend Leser, denn Menschen lechzen danach, hinter die Kulissen anderer Menschen zu blicken. Erst recht, wenn diese ihre Idole sind, nah an der Macht, oder wenigstens die Weisheit eines langen Lebens versprechen.

Mit genau diesen Reizen lockt auch die Biografie, die derzeit auf Platz 1 der Sachbuch-Bestsellerliste der „New York Times“ steht: „Matriarchin“. Ein Buch über das Leben von Tina Knowles, das wahrscheinlich wenig Leser interessiert hätte, würde ihre Tochter nicht Beyoncé heißen. So wirbt das Cover dann auch mit Geschichten über ihre Familie und das Muttersein. Vor allem aber geht es in diesem Buch um Macht. Wie es sich anfühlt, keine zu haben, sie sich zu erarbeiten und schließlich zu beanspruchen.

Das Schöne an Autobiografien ist aber auch, dass jedes Leben auch ein Stück Zeitgeschichte erzählt. Auch die von Tina Knowles erinnert daran, dass wir mit der Zeit, in der wir aufwachsen, verbunden bleiben und sie zumindest teilweise an unsere Kinder weitergeben. Ob wir wollen oder nicht.

Geboren in die Rassentrennung

Tina Knowles wurde 1954 als Celestine Ann Beyoncé in Louisiana geboren. In einer Zeit, als es noch Strandabschnitte für Weiße und weiter abseits Abschnitte für Schwarze gab. Als sich die junge Tina einmal vorn in den Bus setzte, weil sie nicht verstand, warum sich hinten so viele Menschen ohne Sitzplatz drängten, während vorn alles frei war, wurde sie von ihrer Schwester weggezogen und angeblafft. Ohne zu verstehen, was sie falsch gemacht hatte. Als sie schon älter war, erlebte sie dann, wie ihr Bruder von Polizisten grundlos festgenommen und an den Strand gefahren wurde. Schwarze seien dort manchmal von der Polizei erschossen worden, schreibt Knowles. Ihr Bruder aber wurde nur verprügelt.

Ähnlich düster sind die Geschichten über die Nonnen an ihrer Schule, die jede Gelegenheit nutzten, „aufmüpfige“ Schüler zu demütigen, oder ihnen mit Stöcken Hände und Hintern zu versohlen. Die Story von Tina Knowles ist zutiefst amerikanisch und gleichzeitig universell. Sie erzählt einen spezifischen Rassismus und vom Missbrauch arbiträr verteilter Macht im Allgemeinen.

Den von der Mutter und von ihr selbst erlebten Rassismus verarbeitet auch die Tochter in ihren Songs. Nach der Lektüre scheinen viele Motive in Beyoncés Werk von den Geschichten der Mutter inspiriert. Etwa der Song „Formation“, der eine Ermächtigung schwarzer Frauen ist und den Beyoncé beim Super Bowl 2016 in einem Black-Panther-Outfit performte. Auch ihr Album „Renaissance“, eine Hommage an die schwarze Ballroom- und Drag-Kultur, bekommt eine neue Nuance, nachdem man von ihrem schwulen Onkel Johnny erfahren hat, der an Aids gestorben ist und der sie und ihre Schwester Solange mit aufgezogen hat. Ihm gilt die Zeile in „Heated“: „Uncle Johnny made my dress“.

Familien-Mystik

Die Knowles-Carters sind bekannt dafür, eine Familien-Mystik in ihr Marketing einzubinden. Beyoncé (inzwischen Carter) inszeniert sich gemeinsam mit Ehemann Jay-Z als schwarzes Königspaar des Pop und nimmt dafür inzwischen auch ihre zwei Töchter mit auf die Bühne. Zuletzt war auch die Großmutter dabei, um ihren Bucherfolg zu feiern. Auch Solange tanzte bereits als Background-Tänzerin mit, pflegt inzwischen aber ihre eigene Marke als Sängerin. Tina Knowles beschreibt Solange, die jüngere Tochter, als besonders sprachaffin, künstlerisch eigensinnig und europäischer als ihre älteste.

Zu einem langen Leben gehören auch die Fehler, doch selbstkritische Töne finden sich auf den knapp 600 Seiten kaum. Im Gegenteil geht es eher darum, sich selbst und die eigenen Erfolge im Alter endlich feiern zu können – wofür sich Knowles ausreichend Raum nimmt. Auch den Vorwurf, ein Momager gewesen zu sein, die ihre Töchter zum Erfolg genötigt habe, weist sie zurück. Sie habe ihre Töchter nie ins Showgeschäft gedrängt, der Wunsch sei immer von ihnen selbst gekommen.

An einer Stelle im Buch heißt es: „Während ich Janetts kämpferischem Text lauschte, begriff ich, dass Solange und Beyoncé ihrerseits die Botschaft in sich aufnahmen, und eine Macht beanspruchten, die ihnen zusteht.“ Diesen Machtanspruch scheint nun auch Tina Knowles für sich formulieren zu können. Hinter die Kulissen ihrer berühmten Tochter lässt sie dabei nur so weit blicken, wie es der Mythos erlaubt.

Tina Knowles: „Matriarchin“. Aus dem Englischen von Conny Lösch. Piper, 576 Seiten, 28 Euro.

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