Heike Geißler hat einen Essay über die Arbeit geschrieben. Oder ist es ein Essay gegen die Arbeit, den die in Leipzig lebende Schriftstellerin verfasst hat? Jedenfalls fremdelt es in „Arbeiten“ gewaltig mit dem, was man die moderne Arbeitswelt nennt. Die ist wie eine alte Brieffreundin, von der man sich über die Jahre entfremdet hat, nur der Gewohnheit wegen hält man noch Kontakt: „Liebe Arbeitswelt, Du und Deine Verzahnung, Deine Deckungsgleichheit mit dem vorherrschenden Wirtschaftssystem haben mich, so fürchte ich, tatsächlich beschädigt und verschreckt.“ Man kann die knapp 120 Seiten als das Protokoll einer Beschädigung und Verschreckung durch die Arbeitswelt bezeichnen, die nach dem Willen der neuen Bundesregierung die Fessel des 8-Stunden-Tages abwerfen soll.
„Arbeiten“ erscheint im Rahmen einer Buchreihe bei Hanser Berlin, der Titel lässt aber auch an Carolin Amlingers monumentale Studie „Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit“ denken – und vor allem liest er sich wie ein Nachtrag zu Geißlers vor über zehn Jahren erschienenen Buch „Saisonarbeit“, der Erfahrungsbericht einer Saisonkraft in einem Amazon-Warenlager am Stadtrand. „Saisonarbeit“ war keine reißerische Enthüllungsreportage im Stile Günter Wallraffs, sondern eine melancholische und eher selten wütende oder aufbrausende Reflexion über die menschliche Arbeitskraft und ihre verkümmerte Sinnlichkeit inmitten der Paket- und Warenströme einer gigantischen Logistikmaschinerie. Die romantische Version zeigte ein paar Jahre später Thomas Stuber in seinem Film „In den Gängen“, nach einer Erzählung von Clemens Meyer.
Proletarischer Stolz, wo ist er?
Geißler verwebt in „Arbeiten“ Erlebtes und Beobachtetes, sie zitiert aus Artikeln von Dietmar Dath oder Gesprächen mit Freundinnen. Immer wieder geht es um die Frage, was Arbeit ist, was sie mit einem macht, was sie bedeutet. Die in Riesa geborene und damals Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz aufgewachsene Autorin lässt ihren Vater zu Wort kommen, der im Stahlwerk arbeitete: „Mein Vater erzählt und mir wird klar, wie sehr sich sein Verhältnis zur Arbeitswelt von meinem unterscheidet. Er hat, so verstehe ich ihn, seine Arbeitskraft gern und aus Notwendigkeit und Überzeugung zur Verfügung gestellt.“ Ein proletarischer Stolz im Land der Werktätigen, dem Arbeiter- und Bauernstaat DDR.
„Seine Forderungen an die Arbeitswelt waren, gerecht behandelt zu werden und sinnvolles Wirtschaften zu erleben. Beide wurden letztendlich enttäuscht“, heißt es bei Geißler über ihren Vater, den Stahlarbeiter. So schreibt sie über die Umbruchszeit von 1990, als mit dem Verlust des geheiligten Arbeitsplatzes („Unser Kampfplatz für den Frieden!“) auch der Stolz beschädigt wurde und die anschließenden Umschulungen als Schule der Unterwerfung unter ein neues Arbeitsregime erfahren wurden. Der industrielle Malocher wurde zum Auslaufmodell, nicht nur im Osten. In der Öffentlichkeit ist der Arbeiter ein fremdes Wesen geworden – eine Krise der Repräsentation.
An der feministischen Kritik geschult, stürzt sich Geißler in die Repräsentationslücke der Arbeit und macht sich auf die Suche nach den unsichtbaren Arbeiten und Arbeitern, den Heeren von Lieferknechten, aber auch den Kranken, die an der Wiederherstellung ihres Körpers und also ihrer Arbeitskraft arbeiten. Die Entgrenzung der Arbeitswelt („Alles ist Arbeit!“) bis hin zur unendlichen Arbeit am Selbst ist soziologisch kein neuer Befund (so ist „Das unternehmerische Selbst“ von Ulrich Bröckling schon vor fast 20 Jahren erschienen), darf allerdings heute in einem Essay über Arbeit nicht fehlen.
Die anekdotischen Streifzüge durch die verschiedensten Arbeitswelten führen zuletzt zur Frage, was die Arbeit der Kunst ist. „Ich, jetzt Schriftstellerin, wollte Kellnerin werden oder Reiseverkehrskauffrau“, schreibt Geißler. „Meine Arbeit ist es, auf alle Verunsicherungen mit einer Körper- und Denkhaltung zu reagieren, die es mir ermöglicht, ein Gleichgewicht zu finden. Meine Arbeit ist es, den Platz vor meinem Fenster zu beobachten.“ Die Arbeit der Reflexion lässt sich mit den Begriffen der Betriebswirtschaftslehre so wenig fassen wie die Traum- oder Trauerarbeit und ist doch ohne menschliche Verausgabung von Hirn, Muskel, Nerv, Hand nicht zu haben. Die „Schöne Wirtschaft“, wie der Dichter und Dramatiker Peter Hacks seine „Ästhetisch-ökonomischen Fragmente“ mit ironischem Hintersinn nannte, hat eigene Gesetze.
Was Geißler in ihrer schriftstellerischen Arbeit mehr und mehr zu schaffen macht, ist die Weltlage, die immer wieder in Splittern in ihrem Essay auftaucht und eine Unlust am Weltbeobachten auslöst: „Ach, ich bin müde.“ Als Anschlusslektüre kann man an dieser Stelle zu Geißlers Parallelessay „Verzweiflungen“ greifen, der vor wenigen Wochen bei Suhrkamp erschienen ist. „Ich will die Verzweiflung verwandeln in konstruktive oder alberne Handlungen, in Nicht-Verzagen, in Einspruch, gern auch in Märchen oder Gold“, heißt es dort. Das lässt sich auf „Arbeiten“ übertragen: Geißler will Arbeit in Literatur verwandeln. Eine Universalpoetisierung der Welt? Man kann es die romantische Unterströmung einer postmarxistischen Empfindsamkeitsessayistik nennen.
Heike Geißler: Arbeiten. Hanser Berlin, 128 Seiten, 20 Euro
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