Als Elvis Presley mit 23 Jahren – und auf einem frühen Gipfel seiner weltweiten Popularität angelangt – am 1. Oktober 1958 in Bremerhaven eintraf, um seinen anderthalbjährigen Militärdienst in der US-Army abzuleisten, war ich gerade erst aufs Gymnasium gekommen. Meine erste Fremdsprache war Latein, und ich sah mich als einen Schüler, der einen Mangel an natürlichem Talent durch täglich viele Stunden harter Arbeit und ein noch ungewohntes Maß an Konzentration ausgleichen musste. Wie viele meiner Klassenkameraden hatte ich von meinen Eltern ein Transistorradio geschenkt bekommen und liebte es, die Zeit vor dem Einschlafen in die Länge zu ziehen, indem ich heimlich unter der Bettdecke Radiosendungen mit populärer Musik hörte, vor allem American Forces Network (AFN), den damals in Süddeutschland am leichtesten zu empfangenden Sender. Obwohl ich kein Wort Englisch verstand, war ich fasziniert von der tiefen und für mich exotisch melodiösen Stimme des Sprechers wie auch von Paul Ankas „Diana“, meinem ersten Lieblingssong.
Dieses Radiovergnügen erreichte mit Elvis Presleys Anwesenheit auf dem Alten Kontinent ein völlig anderes Intensitätsniveau. Ich hatte seinen Namen gelegentlich auf AFN gehört und mochte auch einige seiner Hits mit ihrem noch ungewohnten Rock-’n’-Roll-Beat, vor allem „Jailhouse Rock“ und „King Creole“ – teilweise in einer ersten Phase stillen Protests, weil meine Mutter sie als Beweis für einen deutlichen Mangel an Geschmack oder gar für ein Zeichen von Dekadenz in der amerikanischen Kultur hielt. Eines Abends hörte ich unter meiner Bettdecke zum ersten Mal „Don’t“, dessen langsame Melodie und Eindruck von Fülle mich mein Leben lang für Elvis’ Stimme einnahm. Das Wort „Don’t“, das zu Beginn drei Mal wiederholt wird und auch den Song beschließt, ließ diese Stimme in einer dunklen Schönheit erstehen, die meine ganze Aufmerksamkeit eroberte und bei mir eine Gänsehaut auslöste. Sie gab mir das Gefühl, auf angenehme Weise überwältigt zu werden, und ich empfand eine glückselige Traurigkeit, wenn der Song nach knapp drei Minuten ausklang. Nichts schien zwischen Elvis’ „Don’t“ und mir zu stehen, der Song wirkte natürlich und aufrichtig, mit einer unbekannten sommerlichen Wärme. Nach einigen kurzen Augenblicken in der Mitte des Songs wechselten die Worte zu einer Feierlichkeit gesprochener Sprache, die mich als Messdiener an das Hochamt am Sonntagmorgen erinnerte, auch wenn hier der Ernst fehlte, den ich aus meiner religiösen Welt gewohnt war.
Da selbst meine Mutter einräumte, „Don’t“ beweise, dass „Elvis Presley singen kann“, gab es nun keinen Konflikt mehr für meinen Traum, diese Stimme zu werden – obwohl meine eigene Stimme noch nicht männlich geworden war. Nach einer Geschichte, die meine Eltern später mit überraschendem Stolz erzählten, gelang es mir offenbar, den Text von „Don’t“, den ich gar nicht verstand, auswendig zu lernen, die Melodie zu behalten und den Song irgendwie zum Zwecke ermunternder oder amüsierter Reaktionen von Gästen oder Freunden darzubieten, die bei uns zum Essen waren. An irgendeinem Punkt muss diese Übung frustrierend und peinlich für mich geworden sein, weil sie unmissverständlich deutlich machte, dass ich keine Chance hatte, die Stimme von Elvis zu imitieren oder gar „eins“ mit ihr zu werden. Was allerdings aus dieser einzigartig fesselnden Begegnung hervorging, war eine niemals endende Sympathie für Elvis und sogar Sorge um ihn. Trotz all meiner selbst auferlegten Hingabe an stärker kanonisierte Segmente der Kultur verfolgte ich mit affektiver Nähe das dramatische Auf und Ab seines Lebens und wünschte ihm leidenschaftlich, sowohl „the King“ der Popmusik zu bleiben als auch ein glückliches Familienleben zu führen. Seine Kämpfe mit verschreibungspflichtigen Medikamenten, seinem Körpergewicht und betrügerischen Managern taten mir weh, und seine triumphale Rückkehr auf die Bühne in Las Vegas nach 1969 gab mir Anlass zu Freude und Bewunderung. Die Art von Liedern, nach denen ich süchtig bin, hat sich niemals verändert. Neben „Don’t“, dem frühen „Love me Tender“ und „Can’t Help Falling in Love with You“ von 1961 bewegt mich „As Time goes by“ in der Aufzeichnung seines letzten Bühnenauftritts in der Market Square Arena in Indianapolis heute noch. Jeder dieser Songs verleiht dem Klang, dem Umfang und dem Volumen seiner Stimme eine Präsenz von überwältigender Fülle.
Ein Amerika, das nicht mehr existierte
Während eines Aufenthalts in Rio de Janeiro erfuhr ich im Fernsehen von Elvis Presleys weder besonders überraschendem noch weithin erwartetem Tod am 16. August 1977, das heißt mitten in einer Zeit, als ich das Gefühl hatte, dass meine Zuneigung zur amerikanischen populären Kultur und zu ihrem sichtbar alternden King nicht mit meinen politischen und intellektuellen Ambitionen vereinbar sei. Doch auch wenn ich dieser Nachricht keinerlei sichtbare Bedeutung beimessen wollte, erkannte ich sogleich, wie einschneidend sie für mich war und dass sie mich zum ersten Mal vor die irgendwie unverhältnismäßige Frage stellte, wie ich ohne diese geliebte Stimme leben konnte. Kein anderer Todesfall, weder der Tod prominenter Persönlichkeiten noch der von Verwandten, die ich liebte, hatte eine derart deprimierende Wirkung auf mich. Mehrere Tage lang fiel es mir schwer, mich auf meine Arbeit, auf Gespräche mit Freunden oder auf die wunderschöne Landschaft Rios zu konzentrieren. Hatte ich einen Anker existenzieller Sicherheit verloren?
Die folgenden Tage bestätigten existenziell, was ich aus praktischen Gründen hätte voraussehen können. Elvis Presleys Stimme, die ich nie live gehört hatte, blieb für mich in ihren vielfältigen Aufzeichnungen und auf den diversen Radiosendern präsent. Ein Leben in Abwesenheit von Elvis Presley war möglich, auch wenn nun etwas Wesentliches, das ich nicht zu benennen vermochte, nicht mehr da war. Während ich mir weiterhin meine Lieblingssongs von Elvis anhörte, wurden für mich seine Biografie und sein geschichtliches Umfeld zum Gegenstand von Interesse und bald auch von Forschung und Schreiben, was mich teilweise verstehen ließ, warum diese Stimme so unverzichtbar geworden war. Sie hatte meine Schritte aus der Kindheit hin zu einer eigenständigen, nicht mehr von den Eltern kontrollierten Person begleitet. Doch es war auch etwas einzigartig Amerikanisches an diesen Songs, eine ferne und doch vertraute Welt, immer noch optimistisch, im Frieden mit und sogar angetan von sich selbst. Ihr Ton ließ auch an die afroamerikanische Kultur denken – nicht zufällig war Elvis Presleys Stimme von der Plattenindustrie als eine „schwarze Stimme“ entdeckt worden, zu einer Zeit, als Afroamerikaner immer noch von der breiten Resonanz ausgeschlossen waren, die er als Weißer aus dem Süden erobern konnte. Nach dem Höhepunkt des Vietnamkriegs um 1970 wurde diese trügerisch schöne Welt sozialer Segregation und populärer Selbstzufriedenheit zunehmend von habituellem Selbstzweifel und permanenter Selbstkritik durchsetzt. In der Endphase seiner Karriere beschwor Elvis Presleys Stimme ein Amerika herauf, das nicht mehr existierte.
Wir entnehmen den obenstehenden Text aus Hans Ulrich Gumbrechts neuem Buch „Leben der Stimme. Ein Versuch über Nähe“, das am 19.5. im Suhrkamp Verlag erscheint (aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff, 268 Seiten, 30 Euro).
Hans Ulrich Gumbrecht, 1948 geboren, ist Albert Guérard Professor in Literature Emeritus an der Stanford University, Distinguished Emeritus Professor an der Universität Bonn und Distinguished Professor of Romance Literatures an der Hebrew University Jerusalem.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.