Jella Haase sitzt im Wintergarten eines ehemaligen Pfarrhauses. Die Sonne wärmt die alten Dielen, im Kamin knackt brennendes Holz. Draußen, in der Weite Mecklenburg-Vorpommerns, blühen Fliederbüsche und Apfelbäume. So beschreibt es die Schauspielerin am Telefon. Im Sommer wird die 32-Jährige in der Underdog-Komödie „#SchwarzeSchafe“ an der Seite von Yasin El Harrouk zu sehen sein, außerdem stehen Dreharbeiten mit der österreichischen Regisseurin Marie Kreutzer an, die mit dem Historiendrama „Corsage“ den Mythos um Sisi entstaubte. Es läuft also für Jella Haase, die gerade in der Hauptrolle eines historischen Films vor der Kamera steht. Er handelt von einer kleinen Gemeinde am Ende des Zweiten Weltkriegs und der toxischen Zersetzungskraft von Diktaturen, wenn sich der Terror des Regimes gegen die eigene Bevölkerung richtet.

WELT: Was ist das für eine Figur, die Sie gerade spielen?

Jella Haase: Ich spiele eine sehr stille, verängstigte Figur. Und trotzdem ist es eine emanzipatorische Geschichte. Im Grunde geht es darum, was passiert, wenn man nicht mehr miteinander redet und die Angst Besitz von einem ergreift.

WELT: Eine, die vor nichts Angst hat und diese Devise seit 80 Jahren in deutschen Kinderzimmern hinausposaunt, ist Pippi Langstrumpf. Anlässlich des 80-jährigen Jubiläums des Erscheinens des ersten Pippi Langstrumpf Buches in Schweden hat der Oetinger Verlag neue Hörspiele veröffentlicht, in denen Sie Pippi Ihre Stimme leihen. Wie kam es dazu?

Haase: Ich bin mit Pippi Langstrumpf groß geworden. Ich habe die Filme gesehen, wir haben die Bücher gelesen, zu Fasching bin ich als Pippi gegangen. Pippi ist für mich eine Freundin aus meiner Kindheit, an der ich mich orientiert habe. Als ich hörte, dass immer weniger Kinder Pippi Langstrumpf kennen, dachte ich, das kann doch nicht sein. Als der Oetinger Verlag dann auf mich zukam und fragte, ob ich mir vorstellen könnte, ihr meine Stimme zu geben, habe ich gleich „Ja“ gesagt.

WELT: Sie selbst sind in den Jahren nach der Wende in Westberlin aufgewachsen. Was für ein Kind waren Sie?

Haase: Ich bin in Berlin-Kreuzberg groß geworden. Ich bin sehr behütet aufgewachsen, auch wenn meine Eltern viel gearbeitet haben. Wir waren frei. Es gab wenig Regeln. Wobei ich mich manchmal frage: Was ist die eigene Erinnerung und was ist die Wirklichkeit? Es dauerte, bis ich begriff, dass meine Stadt einmal geteilt war. Ich war Eiskunstläuferin, deshalb fuhren wir regelmäßig zu einer Halle in den ehemaligen Ostteil. Meine Mutter sagte Sachen wie: „Hier stand mal die Mauer, da wurde geschossen.“ Und ich wunderte mich. Mir sagte das alles nichts, und so ging es fast allen Kindern.

WELT: Gab es eine Grenze, die ihre Eltern in der Erziehung zogen?

Haase: Als ich älter wurde, hieß es, ich solle zu bestimmten Zeiten zuhause sein. Das habe ich nicht verstanden.

WELT: Einmal musste Ihre Mutter Sie von der Polizei abholen.

Haase: Ja, wir waren nach null Uhr noch auf der Straße unterwegs. Es ist interessant, dass es nicht das ist, was mir besonders in Erinnerung geblieben ist. Sondern die Tatsache, dass meine Eltern immer schnell verzeihen konnten. Am nächsten Tag nahm mich meine Mutter mit aufs Patti Smith Konzert.

WELT: Mit 15, einem Alter, in dem andere noch Zahnspange tragen, bewarben Sie sich bei einer Agentur. Wenig später hatten Sie ihre ersten Vorsprech-Termine. Das muss ziemlich cool gewesen sein, oder?

Haase: Für mich war es eher normal, so wie andere Cello übten. Ich hatte eher Angst, Dinge in meinem Privatleben zu verpassen. Zum Beispiel, wenn ich nicht mit auf Klassenfahrt fahren konnte wegen eines Drehs. Meine Eltern waren immer sehr klar. Sie haben gesagt, das mit der Schauspielerei kannst du alles machen, aber erst Abitur. Das war der Deal. Weil ich in meiner Pubertät sehr damit kokettierte, ‚Ich schmeiß’ hin und gehe auf eine Schauspielschule‘.

WELT: Sie haben sehr früh auch harte Rollen gespielt. In „Der letzte Rest“ spielten Sie ein Mädchen, das seine Mitschüler zum Gruppensex animiert, um beliebt zu sein. In „Kriegerin“ gaben Sie ein bürgerliches Mädchen, das in die Neonaziszene abgleitet. In „Kleo“ mimen Sie eine ehemalige Stasi-Agentin, die von ihrer Vergangenheit eingeholt wird. Manchmal mache es Ihnen mehr Arbeit, eine Figur wieder loszuwerden, als sie sich zu erarbeiten. Was meinen Sie damit?

Haase: Damit meine ich nicht, die Figur loswerden, sondern die Gefühle, die das Spielen dieser Figur in mir auslösen. Das merke ich auch jetzt gerade. Ich bin in einem sehr intensiven Projekt. Da begeben wir uns in menschliche Abgründe. Und das Echo dieser Gefühle, die ich dadurch lebe, die machen etwas mit mir.

WELT: Die meisten kennen Sie als Chantal aus „Fack ju Göhte“, die in dem Ableger „Chantal im Märchenland“ die Hauptrolle spielt. Man mag diese „Chanti“, eine Möchtegern-Influencerin ohne Follower, weil sie lauter lustige Sachen sagt. Als es in Kritiken hieß, Sie hätten sich von dieser Figur freigespielt, fühlten Sie sich missverstanden. Warum?

Haase: Weil Chanti mir über die Jahre ans Herz gewachsen ist und ich sie einfach mag. Sie gehört zu meinem Leben und deshalb muss ich mich auch nicht von ihr freispielen. Das ist eine Projektion von außen, die ich so nicht empfinde.

WELT: Sie haben keine klassische Schauspielausbildung absolviert. Eine Weile hatten Sie deswegen einen Komplex. Existiert er noch?

Haase: Komplex ist ein zu großes Wort. Es sind eher Unsicherheiten. 2018 war ich an einem Punkt, an dem ich gelangweilt war von meinem Spiel. Dann tat ich etwas, vor dem ich großen Respekt hatte. Ich fing an, Theater zu spielen, an der Volksbühne. Dort habe ich nochmal ein anderes Handwerk gelernt, meine Spielfantasie hat sich erweitert. Es gab einen Schlüsselmoment, es war die letzte Produktion, als mir der Regisseur Marius Schötz zeigte, dass ich mich auf meine Intuition verlassen kann. Und dass sie auch am Theater das Besondere ist, die mein Spiel ausmacht. Meine Intuition ist meine Kraft, mein eigener Zugang, auf den ich vertrauen kann und muss.

WELT: Ihre Dankesrede beim Bayerischen Filmpreis nutzten Sie für ein politisches Statement. Sie warnten vor dem Normalisieren und Verharmlosen rechter Gesinnung. Dabei finden Sie es selbst schwierig, wenn Schauspieler politisch werden. Wie passt das zusammen?

Haase: Auf der einen Seite denke ich, man muss was sagen. Auf der anderen Seite denke ich oft, ich will nicht zu allem eine Haltung haben müssen. Will ich nicht. Kann ich nicht. Als klar war, dass ich den Bayerischen Filmpreis bekomme, war der erste Gedanke „Wie cool!“. Und der zweite: „Oh Mist, das ist in Bayern und der Preis wird von Markus Söder übergeben.“ Und das so kurz vor der Wahl, bei der so aufgeheizten Stimmung. Ich musste etwas sagen. Es ging für mich nicht anders.

WELT: In der US-Filmbranche in Hollywood kündigt sich jetzt schon an, dass die Trump-Regierung sämtliche Diversity-Programme abwickeln und dafür sorgen wird, dass es wieder mehr Filme mit klassischen Rollenverteilungen geben wird. Die Branche ist eng verflochten, die Auswirkungen wird man auch in Europa, in Deutschland spüren. Mit welchem Gefühl beobachten Sie das?

Haase: Man wird auf die Kunst zurückgeworfen und die Kunst muss dem die Stirn bieten. Wenn Politik so versagt, sind die Künste gefragt, und Filmschaffende gehören dazu. Auf meine Stadt Berlin bezogen finde ich es deshalb umso erschreckender, welchen kulturellen Kahlschlag man hier vornimmt. Dabei brauchen wir die Kultur doch jetzt mehr denn je.

WELT: Der Film „Wunderschöner“ knackte unlängst die eine Million-Besucher-Marke. Wenn etwas im deutschen Kino funktioniert, wird schnell das Etikett „Wohlfühlfilm“ angeheftet, wo auch mitschwingt, es handle sich um leichte Kost. Hat Deutschland ein Problem mit Filmen, die der Mainstream liebt?

Haase: Das ist oft so mit kommerziell erfolgreichen Sachen. Es ist genau wie damals mit „Fack ju Göhte“. Und trotzdem kommen die jungen Mädels heute noch auf mich zu und stehen mit klopfendem Herzen vor mir und schauen mich an und sagen „Du bist Chantal“. Unsere Branche verändert sich gerade, ich selbst bin Teil dieser Veränderung. Das sieht man an „Chantal im Märchenland“: Ist es nicht toll, dass eine wie Chantal jetzt ihren eigenen Blockbuster bekommt? Im Arthouse-Kino und auf Filmfestivals sind viele Frauen vertreten, aber im Blockbuster sind es noch immer zu wenige. Ich glaube, jeder Film hat so seine Berechtigung. Aber dass die Deutschen alles sehr ernst nehmen, wissen wir ja.

WELT: Sie haben ein Gegenmittel, wenn Ihnen alles zu ernst wird, Sie zu verkopft sind, nicht mit sich im Reinen sind. Was ist das?

Haase: Ich mache regelmäßig Fastenwandern. Es bringt mich immer wieder auf null, zuletzt im November. Ich hatte mit Freunden eine Hütte irgendwo in der Natur gemietet, von dort sind wir jeden Tag aufgebrochen. Es ist ein Geschenk, zu merken wie wenig man eigentlich braucht. Wie wenig der Körper braucht. Ich empfehle die Fasten-Wander-Zentrale, die Kurse anbietet.

WELT: Wozu einen Kurs, kann man nicht einfach loswandern?

Haase: Ja, schon. Aber ein Kurs macht tatsächlich Sinn. Es geht um Darmkunde. Man lernt viel darüber, wie das Verdauungssystem funktioniert, man erfährt, wie wir uns von unseren normalen Essgewohnheiten entfernt haben. Und was das Zeug, das wir essen, mit uns macht.

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