So heftig und aus dem Nichts ist schon lange kein Stern über Cannes mehr aufgegangen. Mascha Schilinski, eine 41-jährige Berlinerin, hatte bisher nur einen Abschlussfilm an ihrer Filmhochschule gedreht – und jetzt ist ihr erster richtiger Spielfilm „In die Sonne schauen“ in Cannes Stadtgespräch. Alle reiben sich die Augen und fragen sich, was sie da eigentlich gesehen haben – denn sie haben so etwas noch nie gesehen. Man kann „Sonne“ als die Geschichte von vier Frauengenerationen auf einem Bauernhof in Norddeutschland beschreiben und wäre damit aber dem Geheimnis von Schilinskis Film nicht einmal annähernd auf die Spur gekommen. Ein Gespräch mit der begehrtesten Frau der ersten Tage des 78. Filmfestivals.
WELT: Frau Schilinski, wie ist sie denn so, die Hölle von Cannes?
Mascha Schilinski: Wunderbar. Wenn das die Hölle ist, dann nehme ich sie.
WELT: Sie sind vorher nie hier gewesen?
Schilinski: Ich bin einmal in meinen Ferien hier durchgefahren, aber da war kein Festival.
WELT: Die meisten Filmemacher mühen sich ihr Leben lang, einmal hier einen Film zu haben. Und Sie?
Schilinski: Ja, Cannes ist ein Filmemachertraum, weil es für ganz viel steht. Deshalb ist es großartig, dass uns das passiert ist.
WELT: Man hört, Cannes habe die Zusage für den Wettbewerb schon im Dezember gegeben.
Schilinski: Ja, kurz vor Weihnachten, quasi ein zusätzliches Geschenk. Wir hatten bei allen drei großen Festivals eingereicht – Venedig, Berlin, Cannes – und Cannes hat als Erstes zugesagt.
WELT: Meistens ist das anders. Da gibt es im April die lange Nacht vor der Bekanntgabe des Programms, und alle Regisseure, die sich Hoffnungen machen, warten auf den Anruf von Cannes-Chef Thierry Frémaux.
Schilinski: Wir wussten überhaupt nicht, wie das funktioniert. Wir haben einfach eingereicht, es einfach gemacht.
WELT: Und damit war die Berlinale aus dem Rennen, die Ihnen auch einen Wettbewerbsplatz geben wollte.
Schilinski: Dazu kann ich gar nichts sagen. (lächelt)
WELT: Ihr Film ist alles andere als einfach zu erzählen. Aber wenn man Geld von der Filmförderung möchte, sollte man eine möglichst knackige Zusammenfassung parat haben. Was war Ihre?
Schilinski: Wir hatten ja den Thomas-Strittmatter-Drehbuchpreis gewonnen, also eine erste Auszeichnung. Der Film sollte auf einem alten Hof in der Altmark spielen und von vier Frauen handeln, deren Alltag wir miterleben – über vier Generationen und hundert Jahre. Wir tauchen tief ein in das Erleben dieser Frauen und erkennen Echos aus der Vergangenheit und der Zukunft. Der Film geht der Frage nach, was sich an Erlebnissen in unsere Körper einprägt und uns bestimmt, obwohl es lange vor unserer eigenen Zeit passiert ist. Anders gesagt: Welche Traumata werden weitergereicht?
WELT: Als Filmförderer hätte ich wahrscheinlich gesagt: Das mit den vier Generationen begreife ich, aber der Rest ist mir unklar. Dabei ist „der Rest“ genau das, was Ihren Film derart speziell macht. Hatten Sie Vorbilder?
Schilinski: Nein, für die Erzählweise nicht. Immer wenn wir versucht haben, einen Plot zu konstruieren, hatten wir den Eindruck, als würde sich der Stoff selbst dagegen wehren. Wir haben dann begonnen, alle Bilder, die in uns aufgestiegen sind, aufzuschreiben und – ähnlich wie bei einer Montagearbeit – miteinander zu verknüpfen. So haben sich über die drei Jahre Drehbucharbeit die Figuren herausgebildet, die Struktur hat sich gefunden, und eine kollektive Körpererinnerung ist entstanden.
WELT: Das klingt wie ein Bewusstseinsstrom. Aber der braucht auch noch eine passende Form.
Schilinski: Ich denke, dass das Kino als Kunstform noch sehr jung ist, im Vergleich mit den anderen Künsten, weswegen es mich sehr interessiert, Sehgewohnheiten aufzubrechen und andere Narrationen auszuprobieren.
WELT: Sie gehen nicht chronologisch vor, aber haben eine Einheit des Ortes, dieses alten Hofs. Gibt es eine mysteriöse Verbindung zwischen den Dingen, die dem Ort eingeschrieben sind, und jenen Dingen, die den Menschen eingeschrieben werden?
Schilinski: Nein, es geht nur um die Menschen, die an dem Ort leben. Uns hat die Gleichzeitigkeit von Zeit interessiert, dass in einem Raum jemand etwas ganz Profanes erleben kann und eine Andere dort eine existenzielle Erfahrung macht. Dieses Spannungsverhältnis wollte ich sichtbar machen. Und diese Figuren werden im Lauf des Films immer mehr zu Geistern, indem sie in den anderen Menschen an diesem Ort weiterleben. Es ist eine transgenererationelle Weitergabe von Traumata, und die geht einher damit, dass sich etwas davon in die Mauern des Hauses einschreibt.
WELT: Das Haus strahlt also eine bestimmte Atmosphäre aus. Sie haben in solch einem Haus geschrieben.
Schilinski: Der Ort war besonders, weil er seit 50 Jahren leer stand und komplett unberührt war. Da war noch der Teller mit dem Löffel daneben, mit dem der Bauer zuletzt gegessen hatte, man sah noch kleine Blutspuren am Eingang, wo der Bauer tot umgekippt ist. Es ist ein Ort, der sehr viel Licht hat, und deshalb auch ein verlorenes Kindheitsparadies, und gleichzeitig ist es ein Vierseitenhof, der klaustrophobische Züge aufweist. Dieser Ort, das spürt man, hat schon viel gesehen.
WELT: Im Film sieht man eine Mischung aus großen Ereignissen – zwei Weltkriegen – und ganz kleinen Erlebnissen der Bewohner. Letztere stehen aber im Vordergrund.
Schilinski: Uns ging es um die kleinen, leisen, inneren Beben der Figuren. Ein Hoffest, wo ein Aal in einem Bottich schwimmt, ist mindestens so wichtig wie Auswirkungen des Kriegs. Es ist ein Erinnerungsstrom, und man erinnert sich oft gar nicht an die großen Ereignisse. Der Film ist, wie das Gedächtnis, sehr assoziativ und hat den Mut zur Lücke. Es geht auch um Erinnerungen, an die man nicht mehr herankommt, weil man sie zugeschüttet hat.
WELT: Wie werden diese Erinnerungen, diese Traumata, weitergegeben, wenn sie von Menschen verdrängt worden sind?
Schilinski: Diese Frage haben wir uns in der Recherche auch gestellt. Wir haben uns ihr phänomenologisch genähert, nicht zu psychologisieren versucht. Es geht uns um das, was sich in die Körper einbrennt. Man hat in der Traumaforschung herausgefunden, dass sich viele Erlebnisse wirklich in die Körper einspeisen, in unsere DNS, in alles, was weitervererbt wird – und sich vielleicht erst in einer kommenden Generation auflösen lassen.
WELT: Jetzt werfe ich doch noch ein paar Vergleichstitel in die Diskussion, an die ich während Ihrem Film gedacht habe. „Virgin Suicides“ von Sofia Coppola?
Schilinski: Das ist schon manchmal erwähnt worden – aber ich habe den Film nie gesehen.
WELT: „Picknick am Valentinstag“, ein australischer Film aus den Siebzigern?
Schilinski: Nein.
WELT: Hanekes „Weißes Band“, von der Atmosphäre her.
Schilinski: Den kenne ich. Wir haben wie Haneke viel mit alten Fotografien gearbeitet, vor allem aus diesem Dorf, wo der Hof steht. Dann haben wir viel private Super-8-Filme geguckt. Auch meine eigene Erinnerung hat eine Rolle spielt, ich bin 1984 geboren worden und in West-Berlin groß geworden und als Kind viel ins Berliner Umland gefahren. Eine weitere Inspiration waren Fotografien von Francesca Woodman, denen diese luzide Leuchtkraft innewohnt.
WELT: Es ist wirklich schwer, Ihren Film mit irgendetwas zu vergleichen. Gibt es wenigstens ein Genre, dem Sie ihn zuordnen würden?
Schilinski: Nein (und lacht).
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