Auch die Wiener Geschwister Abor & Tynna lassen Deutschland nicht beim Eurovision Song Contest jubeln. Stattdessen gewinnt ihr Heimatland mit Solosänger JJ. Das Publikum allein hätte dagegen Israel vorn gesehen. Jedenfalls das an den TV-Geräten.
Alles Bitten und Betteln von Stefan Raab hat nicht gefruchtet. Jedenfalls nicht bei den Jurys der deutschsprachigen Nachbarländer. Nicht nur von der gastgebenden Schweiz hieß es im Finale des Eurovision Song Contests (ESC): Germany, "0 points". Auch die österreichischen Juroren bewerteten den deutschen Beitrag "Baller" als Nullnummer. Und das, obwohl (oder gerade weil?) die Geschwister Abor & Tynna, die mit der deutschen Fahne in die St. Jakobshalle von Basel einliefen, doch waschechte Wiener sind.
Daran allein hat es jedoch nicht gelegen, dass Raabs erklärte Mission, den ESC nach Lena Meyer-Landruts Sieg 2010 erneut zu gewinnen und damit wieder nach Deutschland zu holen, gescheitert ist. Sowohl bei den Jurys, die "Baller" insgesamt mit 77 Punkten - darunter jeweils 12 aus Tschechien und der Ukraine - bedachten, als auch bei den Zuschauerinnen und Zuschauern, die 74 Punkte an den Song vergaben, reichte es nur für einen Platz im Mittelfeld. Mit den addierten 151 Punkten sprang letztlich sogar nur Rang 15 heraus.
An sich kein Grund, sich zu grämen - für Deutschland sah es in den vergangenen Jahren schließlich beim ESC oftmals noch deutlich schlechter aus. Im Vergleich zum Vorjahr, in dem Isaak mit "Always On The Run" Zwölfter wurde, ist es allerdings ein kleiner Rückschritt. Nicht nur das dürfte einem Ehrgeizling wie Raab nicht wirklich schmecken und auch Abor & Tynna enttäuschen. Dass ausgerechnet ein einzelner Österreicher das Wiener Duo in deutschen Diensten weit hinter sich ließ und den ESC schlussendlich sogar für sein Heimatland gewann, verleiht dem Ganzen noch mal eine besonders exquisite Note. Sein Name: JJ. Sein Song: "Wasted Love".
Ein ewiges ESC-Rätsel
In einem Rennen, dessen Ausgang so wenig vorhersagbar war wie schon lange nicht mehr beim ESC, hatte der Countertenor, der bürgerlich auf den Namen Johannes Pietsch hört, die Nase in der Endabrechnung vorn. Zwar zählte sein zwischen Klassik und Pop changierender Song "Wasted Love" zum engeren Favoritenkreis. Doch auch mit Ländern wie Frankreich (Louane mit "Maman"), Niederlande (Claude mit "C'est la vie") oder Schweden (KAJ mit "Bara bada bastu"), das von manchen zwischenzeitlich gar schon zum sicheren Sieger hochgejazzt wurde, wurde gerechnet.
Am Ende reichte es für sie gerade mal für den 4. (Schweden, 321 Punkte), 7. (Frankreich, 230 Punkte) oder 12. (Niederlande, 175 Punkte) Platz. An ihnen allen zog Tommy Cash aus Estland vorbei, der mit seiner Italo-Pop-Parodie "Espresso Macchiato", Stand-up-Comedy-Qualitäten und einem Hüftschwung zum Niederknien die Massen begeisterte. Zumindest beim Publikum, das Cash mit 258 Punkten die zweithöchste Wertung bescherte und ihm so mit insgesamt 356 Zählern zum 3. Platz verhalf. Die 98 Punkte der Jurys allein hätten hingegen lediglich Position 9 für ihn bedeutet.
Ja, es war auch in diesem Jahr wieder so wie schon so oft in der Vergangenheit: Das Votum der angeblich mit besonders viel Expertise gesegneten Jurorinnen und Juroren ging vielfach komplett an der Meinung der Zuschauerinnen und Zuschauer vorbei. So wird es wohl zum Beispiel ein ewiges ESC-Rätsel bleiben, weshalb die belanglosen Beiträge aus der Schweiz (Zoë Më mit "Voyage") und Großbritannien (Remember Monday mit "What The Hell Just Happened?") mit stolzen 214 oder immerhin 88 Zählern von den Jurys auf Rang 2 beziehungsweise 8 gevotet wurden, während das Publikum ihnen jeweils exakt 0 Punkte vergönnte. Dadurch rutschten sie dann summa summarum auch auf die Plätze 10 (Schweiz) und 19 (Großbritannien) ab.
Das eigentliche Trauerspiel
Auch die Siegestrophäe wäre nicht an JJ gegangen, hätten die Schweizer Prinzipien der direkten Demokratie auch beim ESC in Basel gegriffen. Tatsächlich wäre der Österreicher mit lediglich 178 Publikumspunkten nicht mal auf dem Treppchen, sondern lediglich auf Rang 4 gelandet. Einzig die Jury-Rekord-Wertung von 258 Zählern sicherte ihm mit insgesamt 436 Punkten den Triumph. Dabei bekam er übrigens auch 12 Punkte von der Jury aus Deutschland - ganz ohne, dass er darum gebeten hätte.
Womit wir beim eigentlichen Trauerspiel des diesjährigen Song Contests wären. Die Hauptrolle darin spielte - wie sollte es anders sein - Israel. Im Prinzip wiederholte sich in Basel eins zu eins das Vorjahres-Drama von Malmö - allerdings in noch einmal zugespitzter Form. 2024 erhielt die Israelin Eden Golan die zweitmeisten Stimmen vom Publikum, aber nur die zwölftmeisten der Jurys. So konnte sie immerhin Platz 5 ergattern und sich damit womöglich zumindest ein klein wenig darüber hinwegtrösten, dass ihr Auftritt im ESC-Finale einem Spießrutenlauf zwischen Buhrufen und Unmutsbekundungen des Publikums glich.
Wer gedacht hätte, die sich stets für Toleranz und Inklusion auf die Schulter klopfende ESC-Community hätte aus diesem unrühmlichen Ereignis gelernt, und in der Schweiz gingen die Uhren ja sicher ohnehin anders, wurde in der St. Jakobshalle eines Besseren belehrt. Weil die Jurys auch der in diesem Jahr mit dem Lied "New Day Will Rise" für Israel antretenden Yuval Raphael lediglich 60 Punkte und damit nur einen 14. Platz zuerkannten, schien es lange, als sei die Überlebende des Hamas-Massakers vom 7. Oktober 2023 chancenlos. Als dann jedoch offenbar wurde, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer vor den TV-Geräten Raphael mit 297 Punkten - darunter übrigens wie schon bei Golan 12 aus Deutschland - ihre mit Abstand höchste Wertung verliehen hatten und der Israelin damit sogar noch einmal Aussicht auf den Gesamtsieg verschafften, kippte in der Halle die Stimmung.
Angsteinflößender Jubel
Der Showdown zwischen JJ und Raphael wurde von ohrenbetäubenden "Austria"-Sprechchören begleitet. Als letztendlich feststand, dass der Österreicher in dem denkbar knappen Rennen doch die Oberhand behalten würde, brach frenetischer Jubel aus, der schon nicht mehr nur befremdlich, sondern geradezu angsteinflößend war - auch wenn man kein Israeli ist und kein israelisches Fähnchen in der Hand hielt. Ein weiteres Mal zuckte man unweigerlich zusammen, als sich ein Journalist in der Pressekonferenz nach der Veranstaltung überschwänglich bei JJ für dessen Sieg bedankte. Er habe "uns alle gerettet", bescheinigte der Reporter dem Österreicher, der zugleich dafür gefeiert wurde, nach Loreen und Nemo nun bereits der dritte queere ESC-Sieger in Folge zu sein.
Dass ausgerechnet der ESC einen anschaulichen Beleg für das Erstarken des Antisemitismus liefert, ist erschreckend. Jedwede kritische Auseinandersetzung mit Israels Vorgehen im Gazastreifen ist notwendig und berechtigt - aber die Häme, mit der in Basel erneut eine israelische Sängerin für die Politik ihres Landes in Sippenhaft genommen wurde, ist es beileibe nicht.
Yuval Raphael absolvierte ohne Zweifel einen der stärksten Auftritte beim diesjährigen ESC und wäre ebenfalls eine würdige Gewinnerin des Wettbewerbs gewesen - ohne JJ seinen Sieg deshalb madig machen zu wollen, denn die Regularien, die ihm dazu verholfen haben, sind nun mal so, wie sie sind. Dass sich das TV-Publikum erneut dem undifferenzierten Anti-Israel-Hype entgegengestellt hat, ist dennoch erleichternd. Da verzeiht man ihm sogar fast, dass es Deutschland die Mission ESC-Sieg ebenfalls verdorben hat.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.