Im russischen Ballett ist erst am 19. Mai 2025 das Zeitalter der UdSSR endgültig zu ihrem Finale gekommen. Denn da starb die graue Eminenz des Sowjet-Tanzes: Yuri Grigorovich, der über 30 Jahre als Direktor des Bolschoi-Balletts die ästhetischen Richtlinien gesetzt hatte, die dort bis heute wirken.

„Ballett ist eine Frau.“ Das hat George Balanchine gesagt. Der war Georgier und wurde doch Amerikas bedeutendster Choreograf. Sein zwanzig Jahre jüngerer, 1927 im damaligen Leningrad geborener Sowjet-Antipode hieß Yuri Grigorovich – und der sah systemkonform den Tanz als Mann. Berühmt wurde Grigorovich 1968 mit seinem poststalinistischen Heldentanz „Spartacus“.

Acht Jahre nach Stanley Kubricks gleichnamigem Filmspektakel marschierten auf der Bühne des Bolschoi muskelstarrende Gladiatorensklaven martialisch gegen dekadente Römer, um heroisch unterzugehen. Und trotzdem, noch im Tod sozialistisch rot beleuchtet, die Proletarierkrieger der Zukunft zu schaffen.

„Spartacus“ als Ballettspartakiade, das heißt Schweiß, Tränen, Machismo. Testosteronstarrende Tänzer wie Zehnkämpfer, deren Virilität in spektakulären Sprüngen und einarmigen Hebungen gipfelte; 1977 in der Studioverfilmung mit den beiden muskelbepackten, finster blickenden Protagonisten der Uraufführung, Vladimir Vassiliev und dem Letten Maris Liepa sogar in Zeitlupe überdehnt.

„Triumph des Willens“ im Zeichen von Hammer und Sichel

Es wurde im Kalten Krieg die Visitenkarte der russischen Vorzeigekompanie, Musterstück ihrer Panzerknacker-Ästhetik. Einfach gestrickt, massentauglich, die Propaganda durch permanente Wiederholung verstärkend. Trotzdem weltweit auf Gastspielen bejubelt, auch wegen Aram Chatschaturjans primitivistisch-eingängiger, meist peitschend turbokraftvoller und trotzdem wunschkonzertkompatibler Musik, die im populären „Schwertertanz“ gipfelt. Frauen sind in dieser simplen Komsomol-Antike-Welt entweder Huren oder für ein wenig feminine Leibwärme zuständig. Dann werden sie am Ende huckepack vom Männchen ins Nachtkörbchen getragen.

Yuri Grigorovich hat sein populärstes Werk nie außerhalb Russlands inszeniert, andere Choreografen schon. Die Sowjetunion existiert längst nicht mehr, aber diese in groben Schwarz-Weiß-Strichen schraffierte Vorlage lässt sich kaum anders interpretieren als damals. So wirkt das grotesk überzeichnende Werk heute eigentlich in weiten Teilen nur noch veraltet und komisch: wie ein getanzter Sandalencomicstrip. Eine Art „Triumph des Willens“ im Zeichen von Hammer und Sichel, wo zu sehen ist, dass sich faschistische und kommunistische Körperästhetik kaum unterschieden.

Trotzdem kam „Spartacus“, mit finalem Schliff versehen vom greisen Grigorovich, 2016 zur hellen Begeisterung der offenbar verführbaren Münchner an der Bayerischen Staatsoper heraus. Der damalige Ballettchef Igor Zelensky musste freilich als einer der ersten Russen im Westen nach Ausbruch des Ukrainekriegs 2022 seinen Posten verlassen: Weil plötzlich seine Nähe nicht nur zu einer Tochter Wladimir Putins ruchbar wurde.

Doch die Premiere war überraschenderweise ein Tanzwelt-Hit. Ein letztes Stück Stalinismus an der Isar, während im Kreml der Putinbär laut rumorte. Und der alte Grigorovich, der sich begleitet von Standing Ovations verbeugte, er hatte alle Systeme überlebt.

Das klassische Ballett, so wie wir es heute kennen, wurde zwar in der Barockzeit in Frankreich erfunden, aber im zaristischen Russland um die Wende zum 20. Jahrhundert zu seiner höchsten Blüte vollendet. Die exilierten Ballets russes von Serge Diaghilev nahmen zwar den Westen mit auf eine Reise der Tanzavantgarde, aber auch im nun roten Russland überlebte der Tanz die Bilderstürme der Bolschewiken gegen alles Bürgerliche – weil er sich zur Apotheose des Proletarischen umbiegen ließ. Sogar die Prinzen und Schwäne wurden Arbeiter und Bauern.

Andere haben die Vorarbeiten geleistet und den zaristischen Tanz von zu viel Plüsch und Plunder befreit. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat aber keiner folgenreicher an diesem sportiven, oft wenig poetischen, aber politisch gewollten Look des Sowjetballetts gearbeitet wie der formbare, aber auch dominante Grigorovich.

Der dem Petersburger Tänzermilieu entstammende Grigorovich war zunächst vom Zirkus fasziniert. Er studierte an der Leningrader Choreografischen Schule (vormals Zaristische Ballettschule, heute Waganova-Akademie) und wurde im Zweiten Weltkrieg nach Perm evakuiert. Er trat 1946 dem Kirov-Ballett bei, wo er vor allem in Charakterrollen glänzte, wurde dort Ballettmeister, wechselte nach Moskau zum Bolschoi, zu dessen künstlerischem Leiter er 1964 aufstieg. Dort choreografierte er neben „Spartacus“ 1975 „Iwan der Schreckliche“ sowie 1982 Schostakowitschs „Das Goldene Zeitalter“. Außerdem überarbeitete er fast alle klassischen Meisterwerke im neuen Stil: oft mit Happy End und meist aufgewerteten Rollen für die Männer.

Seine Ära am Bolschoi ging 1995 offiziell nicht ohne Konflikte zu Ende. Anschließend choreografierte er für verschiedene russische Kompanien, bevor er sich in Krasnodar niederließ, wo er seine eigene Kompanie gründete. Doch Grigorovich, der zweimal mit Tänzerinnen – Alla Shelest und Natalia Bessmertnova – verheiratet war, dominierte als Mann im Hintergrund auch nach dem Fall des Eisernen Vorhang das klassische Ballett. Am 19. Mai 2025 ist er nun im Alter von 98 Jahren gestorben. Das Bolschoi erklärte, es werde „sein Andenken in Ehren halten und sein unschätzbares Erbe schützen“.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.