Eine Bungalow-Siedlung in einem Vorort von Köln. Obwohl in der Ferne eine Autobahn rauscht, wirkt das Viertel mit seinen Eigenheimen aus den 1960er-Jahren wie im Dornröschenschlaf. Viele Grundstücke sind zugewachsen, die Straßen zu schmal fürs heutige Lieferando-Zeitalter, sodass bereits ein einfaches Paketauto den Durchgang zum Haus des Verlegers und Kunstsammlers Thomas Schumann versperrt.

Statt eines Klingelschildes prangt dort ein DIN-A4-großes Blatt Papier mit zwei blauen Klebebandstreifen an der weiß getünchten Backsteinwand. Der runde Klingelknopf ist aus Messing. Thomas Schumann öffnet die Tür und heißt willkommen in seiner Welt. Hier betritt man kein normales Wohnhaus, sondern einen Kunst- und Bücherspeicher der deutschen Exilkultur. Bis heute hat der Bruch, die Zäsur, der Brain-Drain, der Deutschland und Österreich durch den Nationalsozialismus ab 1933/38 erfasst hatte, kaum adäquat Platz im kollektiven Gedächtnis gefunden. Hunderttausende mussten wegen ihrer jüdischen Herkunft oder politischen Gesinnung emigrieren, darunter Zehntausende Kulturschaffende aller Couleur: Musiker, Theaterregisseure, Filmschauspieler, bildende Künstler, Architekten, Philosophen, Psychoanalytiker und rund 2000 Schriftsteller.

In diesem Haus haben ihre Werke Asyl. Schumann lebt hier, im Haus seiner Eltern, seit Jahrzehnten allein. Was heißt allein? In Gesellschaft von 5000 Büchern und 1000 Gemälden, wie er auf Nachfrage erklärt. Nicht nur jeder Quadratmeter Wand ist belegt – Petersburger Hängung gar kein Ausdruck. Auch sämtliche Möbel, an denen man etwas anlehnen oder abstellen kann, sind mit Kunst okkupiert. Besucher sollten erst gar nicht versuchen, irgendwo Platz zu nehmen, denn gerahmte Ölgemälde, Zeichnungen, Aquarelle lagern mehrreihig auf und an Sesseln, Hockern, Tischen, Kommoden. Die Szenerie lässt an Cornelius Gurlitt denken, den Sohn des NS-Kunsthändlers, dessen Sammlung 2013 die Feuilleton-Öffentlichkeit elektrisierte. Bei Schumann ist allerdings alles rechtmäßig erworben.

Anfangs habe er gar keine Malerei gesammelt, sondern nur Schriften. Sein Leben lang wird Thomas Schumann sich erinnern, „wie alles anfing“, anno 1965, in der Schweiz: Der 15-Jährige war mit seinen Eltern in Kilchberg bei Zürich. Er besuchte das Grab von Thomas Mann. Und konnte das Wohnhaus des Schriftstellers ausfindig machen, in dem Katia Mann noch lebte. „Ich hab’ dann einfach mal geklingelt. Und sagte der Haushälterin, ich sei Schüler aus Deutschland, ob ich vielleicht ein Autogramm von Frau Mann bekäme. Wenige Minuten später hielt ich eine signierte Ausgabe der ‚Buddenbrooks‘ in den Händen“, erzählt Schumann. Er spricht rheinischen Singsang. Und zückt das Widmungsexemplar aus dem Regal.

Die Hausherrin habe sich 1965 selbst nicht blicken lassen, aber weil Thomas Schumann ihr so artig schrieb, wurde er 1968 noch einmal empfangen. „Diesmal bekam ich eine Führung durchs Haus, Katia Mann erzählte von ihren Enkelkindern und zeigte mir das Arbeitszimmer und die Bibliothek ihres Mannes“, erzählt er. „Wie schade, dass der Thommy nicht mehr lebt, er hätte sich sicher gern mit Ihnen unterhalten“, habe sie ihm gesagt. „Und wer weiß, vielleicht wäre ich als Schuljunge sogar noch in eines seiner Werke eingegangen“, witzelt Schumann vielsagend, auf Thomas Manns Vorliebe für junge Männer anspielend. Als Widmungsexemplar habe er beim zweiten Besuch die „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ erhalten, diesmal mit noch netterer Widmung von Katia Mann. Schumann geht ins Nebenzimmer und zeigt mir das Exemplar. Und viele weitere Widmungsexemplare.

Die Begegnung mit Katia Mann sei so eindrücklich gewesen, „dass ich das Aufsuchen von Schriftstellern fortan zu meinem Hobby gemacht habe“, erzählt Schumann. Friedrich Dürrenmatt in Neuchâtel, Ernst Jünger in Wilflingen, Erich Maria Remarque in Ronco sopra Ascona, Erich Kästner in München – Schumann hat ein paar Hundert Autoren kontaktiert und besucht. „Schon bald fokussierte es sich dann aber auf die im Exil gewesenen“, eine Epoche der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte, die in seinen Studienfächern (Germanistik und Geschichte) in Köln nicht vorkam.

Erst allmählich sei ein Bewusstsein für sie entstanden, hätten Pioniere wie Hans-Albert Walter mit Exilforschung begonnen. Er, Schumann, sei als Schüler und Student oftmals der erste Deutsche gewesen, der die vom Nationalsozialismus Verfemten nach dem Krieg aufgesucht habe. Friedrich Walter in London, Hermann Kesten im Altersheim in Riehen bei Basel, die alkoholkranke Irmgard Keun in der Rheinischen Landesklinik Bonn. Schumann wurde über die Jahre zum Ein-Mann-Betrieb in Sachen Exilforschung. Konrad Merz („Ein Mensch fällt aus Deutschland“) schrieb ihm 1987 ins Buch: „Nichts will ich vergessen“.

Im Jahr 1994 hat Schumann seinen Ein-Mann-Verlag gegründet, die Edition Memoria. Darin erinnert er mit ein bis zwei Büchern jährlich an die unzähligen Persönlichkeiten, die dem deutschen Kulturraum abhandengekommen sind. Schumann hat 1998 Elisabeth Mann-Borgese wiederentdeckt (die zweitjüngste Tochter von Thomas Mann, die einem breiten Publikum später durch Heinrich Breloers TV-Dokumentation „Die Manns“ bekannt wurde). Er hat 2018 die Autobiografie von Judith Kerr verlegt, für die sich kein deutscher Publikumsverlag interessierte, obwohl das Buch in Großbritannien bei HarperCollins erschienen und die Tochter des legendären Kritikers Alfred Kerr durch ihr berühmtes Jugendbuch „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ eigentlich auch hierzulande ein Begriff war.

Dass solche Namen von Publikumsverlagen links liegen gelassen wurden, erzählt ex negativo eine Geschichte für sich. Es gebe im deutschen Literaturbetrieb eine Kontinuität des Fremdelns mit den Exilanten, glaubt Schumann. Schon 1946 habe Frank Thiess an die Adresse von Thomas Mann gerichtet formuliert, dass die Emigranten doch diejenigen seien, die „der deutschen Tragödie von den Logen und Parterreplätzen des Auslands zugeschaut“ hätten. Dieser latente Vorwurf sei Jahrzehnte vorherrschend gewesen.

Neben Büchern in Antiquariaten erwarb Schumann bei Auktionen auch Kunst von Exilanten, das erste Gemälde war ein Stillleben von Hein Heckroth. Ein deutscher Exilant, der 1949 sogar einen Oscar bekam, als Art Director für den Hollywoodfilm „Die roten Schuhe“. Die Kunstsammlung sei peu à peu gewachsen und tourte bereits durch verschiedene deutsche Museen, war etwa schon in Konstanz, Gotha oder zuletzt in Siegburg zu sehen, dort sogar mit einem Besucherrekord. Ein definitives Domizil habe seine Sammlung noch nicht, aber er sei in Gesprächen mit der Stadt Bonn, die ihren Windeckbunker zu einem „Forum Exilkultur“ entwickeln möchte. Eine Machbarkeitsstudie der vorherigen Bundesregierung, in der die Sammlung gewürdigt wird, liegt seit Januar vor.

Deutschland hat bis heute kein Museum über das Exil, obwohl die Emigranten, die wegen der Nationalsozialisten außer Landes mussten, „die ersten deutschen Vertriebenen“ waren, wie die Schriftstellerin Herta Müller zu sagen pflegt. Die Literaturnobelpreisträgerin setzt sich seit Jahren für ein deutsches Museum des Exils am Anhalter Bahnhof in Berlin ein – schräg gegenüber vom schon existierenden Zentrum für Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Ob und wann dieses deutsche Exilmuseum in Zeiten klammer Finanzen gebaut werden kann, steht in den Sternen. Im wortwörtlichen Sinne naheliegender für ihn sei der Standort Bonn, erklärt Schumann.

Inzwischen stehen wir in seiner Küche. Schumann hat Käsekuchen gekauft und brüht uns einen Kaffee. Für anderes wird der Herd in diesem Haus nie benutzt. Schumann lebt in der Welt seiner Bücher, das neueste sei die deutsche Erstausgabe des Essays „Nationalsozialismus als Rankünelehre“ von Menno ter Braak (1902–1940). Der niederländische Publizist und Freund von Thomas Mann beging 1940 kurz nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in den Niederlanden Selbstmord. Wieder so ein gekappter Lebenslauf.

2017 wurde Schumann vom deutschen PEN für seine Verdienste um die Exilkultur mit dem Hermann-Kesten-Preis ausgezeichnet, die Laudatio hielt Georg Stefan Troller. Der inzwischen 103-jährige Autor und Dokumentarfilmer hat mehrere Bücher in der Edition Memoria publiziert und ist den Lesern der WELT AM SONNTAG als monatlicher Kolumnist in der „Literarischen Welt“ bekannt. Dass sich inzwischen weitere Verlage gegründet haben, die Wiederentdeckungen platzieren (etwa „Das vergessene Buch“ in Wien und „Das Kulturelle Gedächtnis“ in Berlin), unterstreicht Schumanns Pionierarbeit.

Zu Zeiten, als es noch längst nicht gängig war, sich für das Exil ab 1933 zu interessieren, war Schumann schon sensibilisiert für das kulturelle Vermächtnis dieser Epoche. Auch deshalb bleibt zu hoffen, dass seine wertvolle Sammlung voller Korrespondenzen, Kunstwerke und signierter Erstauflagen in die öffentliche Hand übergeht.

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