Kirill Serebrennikov ist sozusagen auf der Flucht, auch wenn er es vergleichsweise behaglich haben mag. Als russischer Dissident, der mit seiner Meinung über Putins größenwahnsinnigen Todeskult noch nie hinterm Berg gehalten hat, lebt er in Berlin, inszeniert dort und in ganz Europa Opern und dreht Filme. Neuerdings profiliert er sich als Regisseur von Biopics böse schillernder Extremfiguren. Statt linearer Lebensläufe verschlucken den Zuschauer ideologische Labyrinthe.
Nach „Limonov – The Ballad“ (2023), dem glitzernden, gewalttätigen Epos über den gleichnamigen russischen Nationalbolschewiken, wendet Serebrennikov sich nun einer historischen Gestalt zu, bei der jeder Wille zur Ambivalenz versagt: Josef Mengele, Todesengel von Auschwitz, der an der berüchtigten Rampe per Fingerzeig entschied, wer ins Gas geschickt wurde und wer vorerst weiterleben durfte. Besonders grausam waren seine Experimente an Zwillingen, Kindern und Behinderten, durchgeführt unter dem Vorwand medizinischer Forschung. Opfer berichteten von sadistischer Neugier und völliger Empathielosigkeit. Nach Kriegsende gelang Mengele die Flucht. Über Italien und ein Netzwerk katholischer Fluchthelfer (die „Rattenlinien“) setzte er sich nach Südamerika ab, zunächst nach Argentinien, später Paraguay und Brasilien. Trotz intensiver Fahndung durch den Mossad, die Bundesrepublik und internationale Behörden wurde er nie gefasst. 1979 starb er unbehelligt bei einem Badeunfall nahe São Paulo, seine Identität wurde erst Jahre später zweifelsfrei bestätigt.
In „Das Verschwinden des Josef Mengele“, jetzt in Cannes im Wettbewerb um die Goldene Palme uraufgeführt, widmet sich Serebrennikov nicht so sehr den schrecklichen Taten als ihrem Nachbeben, erzählt anhand des jahrzehntelangen Versteckspiels des Verbrechers. Es ist ein Film über das feige Leben eines Patriarchen ohne Land und eigene Familie, der nie Rechenschaft ablegen musste – und über seine innere Leere, eine Existenz, die sich von nichts nährt als dem verkrampften Festhalten an einer mörderischen, dummen, rassistischen Ideologie.
Die Grundlage des Films bildet Olivier Guez’ gleichnamiger Roman von 2017. Guez hat nicht so sehr literarische Fiktion im engeren Sinne geschrieben, sondern eine historisch präzise, beklemmend nüchterne Rekonstruktion von Mengeles Leben im Exil. Der Autor widersteht der Versuchung, das Schicksal des berühmten Nazi-Schergen als nervenaufreibenden Thriller zu schildern. Im Vordergrund steht die monotone, schleichende Entropie – ein Leben in Angst, Paranoia und wachsender Bedeutungslosigkeit.
Für einen Film ist das ein nicht geringes Problem. Serebrennikov behält Guez’ Ansatz bei, springt aber zwischen den Zeiten, erzählt ein kaputtes Leben in Fragmenten. Szenen aus dem Exil wechseln mit Erinnerungen an Auschwitz. Das so analytische wie atmosphärische Schwarzweiß in starken Kontrasten, Basso continuo der Erzählung, wird in den Rückblenden ins Todeslager von einer verstörenden, fast hyperrealen Farbigkeit abgelöst – als wäre die ferne Erinnerung die eigentliche Gegenwart und die Gegenwart ein surrealer Fiebertraum.
Badeszenen am Fluss und das Schäkern mit der Freundin, der späteren Ehefrau, die ihm aber nicht ins südamerikanische Exil folgen mag, werden kontrastiert mit der Vermessung menschlicher Körper im Labor. Besonders Zwillinge haben es Mengele angetan. Sind alle Daten erfasst, zu denen ein lebender Organismus nötig ist, folgt ein nachlässiger Kopfschuss vor der Barackenmauer. Bevor die Körper der Opfer mit dem Skalpell auf dem Seziertisch aufgeschnitten werden, hängen sie wie Vieh zum Ausbluten an Fleischerhaken.
August Diehl spielt Mengele mit einer erschütternden Ruhe. In seinen Augen lodert kein Wahnsinn, sondern es glimmt ein kalter Fanatismus, der im Alter nicht an Überzeugung nachgelassen hat. Auch nach Jahren des Exils, stets auf der Flucht vor den Nachstellungen der Behörden, ist Mengele kein von der Schuld gebrochener Greis. Er glaubt weiter an die Welt, die ihn hervorgebracht hat – weil er ohne sie nicht leben könnte. Der Film zeigt, wie sein Umfeld – von alten Kameraden bis zur eigenen Familie – diese Konstruktion jahrzehntelang stützt. Erst langsam, fast unmerklich, beginnt das Gewebe zu reißen: Seine Frauen verlassen ihn, Unterstützer ziehen sich zurück, das Geld versiegt. Und doch bleibt er in seinem ideologischen Kokon gefangen.
Ein Scharnier des Films ist der Besuch von Mengeles Sohn Rolf (Max Bretschneider), der vaterlos in Deutschland aufgewachsen ist. Er begegnet dem Mann, den er nie bewusst erlebt hat, mit Zurückhaltung. Er hat beschlossen, ihn so unvoreingenommen kennenzulernen, wie es ihm möglich ist. Und doch dringt der Abscheu immer wieder durch. Er heißt zwar Mengele, ist aber ein Kind der Nachkriegszeit, langhaarig, mit Sympathien für die Hippies. Sein Vater schickt ihn erst mal zum Friseur. Ein wahres Gespräch kommt nie zustande. Der Sohn zerschellt Mal und Mal an den Klippen aus Hass, hinter denen sich der Vater versteckt. Ein einziges Mal bricht die autoritäre Fassade auf, und genuine Verzweiflung kommt zum Vorschein. Dann fängt sich Mengele Sr. wieder und stiert dumpf und böse in seiner kläglichen Bleibe in den Fernseher. Es läuft Fußball.
Wie schon in „Limonov“ interessiert sich Serebrennikov für ein Leben, in dem Ideologie Lebensform wird. Doch anders als beim schillernden Russen – bei dem sich Anarchopunk und Rechtsradikalismus die Waage halten – ist Mengele ein schwarzes Loch. In Guez’ Nachfolge versucht Serebrennikov erst gar nicht, ihn zu erklären oder gar zu psychologisieren. Diehl verkörpert ihn als menschliche Hülle, in der eine Idee wie eine Wunde schwärt. In ihrem langen Eiterungsprozess zerstört sie alles, am Ende auch den Träger selbst.
Viele internationale Premierenbesucher zeigen sich ratlos, warum sie sich die Verbiestertheit eines gescheiterten Lebens über nicht unerhebliche 135 Minuten anschauen sollen. Die unnachgiebige Dramaturgie ist da eher keine Hilfe. Als Deutscher jedoch sieht man Diehls Mengele mit anderen Augen zu. Die Kontinuität des Nationalsozialismus viele Jahrzehnte über Kriegsende hinaus, verkörpert in einem Mann, wirkt wie das böse Spiegelbild all der Zeugnisse von Überlebenden, die die wichtige Gedächtnisarbeit prägen, die wir ungelenk Vergangenheitsbewältigung nennen. Das Monster kann nur gebannt werden, wenn wir es in uns selbst erkennen.
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