Dieser Gastarbeiter-Zug fährt nicht nach Nirgendwo und auch nicht nach Niedersachsen, wie einst in Werner Schroeters Neuer-Deutscher-Film-Melodram „Palermo oder Wolfsburg“. Die Fahrt endet nach dem Start in Sizilien bereits in München. Dort nämlich werden die immer im Doppelpack aufgeführten Kurzopern „Cavalleria Rusticana“ von Pietro Mascagni und „I Pagliacci“ von Ruggero Leoncavallo aufgeführt. Erstmals seit fast 50 Jahren.

Natürlich geht das nicht mehr, wie hier noch vor einem halben Jahrhundert unter Giancarlo del Monacos Pathos-Regie, in einem Pappmaschee-Dorf mit Kirche, Wirtshaus und Bitterorangengärten oder einem Vorstadtplatz für die räudige Theatertruppe. Zudem hat man längst kapiert, dass die zwei Jahre auseinanderliegenden, einst vom selben Verlag als siamesische Opernzwillinge zusammen gespannten Einakter außer ihrem Eifersuchtsthema mit Finalmord und dem süditalienischen Schauplatz eigentlich wenig gemein haben.

Die 1890 uraufgeführte Tragödie von der „Bauernehre“ („Cavalleria Rusticana“) erzählt von der von Turiddu verlassenen, von der Dorfgemeinschaft ausgestoßenen Santuzza, die ihren Ex beim Mann von dessen aktueller Geliebter anschwärzt; worauf dieser Turiddu zum Duell fordert und ersticht. Das ereignet sich unter Wahrung der drei klassischen dramatischen Einheiten Ort, Zeit und Handlung rigoros rasch und geradlinig. Der weit vielschichtigere, auch musikalisch impressionistisch schillerndere „Bajazzo“ hingegen durchschreitet schon im Prolog des Komödianten Tonio die vierte Wand. Er spielt – bis zum Verzweiflungsschrei des Clown-Mörders Canio „La commedia e finita“ – mit Schein und Sein, theatralischer Komödie und scheinbar echter Realität – die auch nur gespielt ist. So wie die Verzweiflung des Spaßmachers, der sich trotz Tränen und Schmerzen jeden Abend wieder bunt schminken muss.

Es muss also nicht zwangsläufig ein geistiger Zusammenhang konstruiert werden zwischen der erdig-melodiesatten Archaik Leoncavallos und dem fadenscheinigen, dabei farbsprühenden Straßentheater Mascagnis, wo Commedia dell'arte in blutigen Ernst umschlägt. Doch die Regiemode verlangt gegenwärtig gerade dieses. Und das in München engagierte italienische Team folgt dem auch. Francesco Micheli, langjähriger Leiter des Donizetti-Festivals in Bergamo, bindet beide Stück sogar unter dem mythischen Bild des traurigen Wanderclowns zusammen, der entwurzelt und enttäuscht immer weiterzieht, um die Menschen zum Lachen zu bringen, während er selbst nur noch Tränen hat.

Hier ist er ein stummer Darsteller (Oliver Exner). Edoardo Sanchi hat dafür einen schwarzen, leeren Raum gebaut, auf den sich die Drehscheibe mit einem stilisierten Dorf aus mit groteskem Holzfurnier verzierten Möbeln herabsenkt. Der Clown tritt mit Koffer, Mantel, Mütze und Clownsnase auf. Seine Tenor-Alter-egos übernehmen dann singend jeden Akt. Ein folkloristisch überzeichnetes Sizilien im hart beleuchteten Tragödienstil kostümiert dazu Daniela Cernigliaro; am Ende tragen aber alle Sixties-Kleider.

Offene Züge sind das vorherrschende Bühnenbild im„Pagliacci“, der im München der Siebzigerjahre spielt. Turiddu, der nicht gestorben, sondern geflohen ist, heißt jetzt Canio und arbeitet in einem Dinnertheater, wo während der Spaghetti-Schlacht hinter dem Büfett die Pointen fliegen. Bis statt Tomatensauce echtes Blut fließt, weil der eifersüchtige Tonio ihm gesteckt hat, dass seine ermordete Frau Nedda ein Verhältnis mit Silvio aus dem Publikum hatte.

Micheli inszeniert das weitgehend schlüssig, aber im ersten Teil auch ein wenig umständlich. Zum Problem wird hier die offene Akustik auf der riesigen Bühne, wo zudem die Darsteller Rampenverbot haben. So kann der versierte Daniele Rustioni im Graben wenig Atmosphäre und Dichte aufbauen, obwohl er sich um Farbnuancen und Feinklang bemüht. Man schaut dem entrückten Melodram zu, ohne wirklich berührt zu sein. Italienische Oper lodert sonst anders.

Es singen freilich nur Nicht-Italiener. Die Russen Yulia Matochkina (Santuzza) und Ivan Gyngazov (Turiddu) tönen engagiert, weniger idiomatisch; das hat man alles hier schon sehr viel besser und stimmiger gehört. Der abgesungen bellende Wolfgang Koch (Alfio und später Tonio) ist ein deutsches Provinzmissverständnis. Die Lola (Ekaterina Buachidze) bleibt unauffällig, darf aber noch mal im weißen Spitzenkleid durch den „Bajazzo“ geistern. Rosalind Plowright (Lucia) war zwar mal in England ein Star, hier kennt sie keiner, und von Turiddus Mama (einst war das Wagner-Legende Astrid Varnay) ist rein gar nichts zu hören.

Im „Pagliacci“, wo man lokalstolz im TV-Screen-Wagen die Fußballweltmeisterschaft 1970 mit Deutschland und Italien im Halbfinale zeigt, wird das natürlich subjektiv besser: Weil jetzt der nach Salzburg umgesiedelte Münchner Jonas Kaufmann die Clownsrolle übernimmt und altersgemäß noch glühglimmernde Starpower verbreitet. Er muss sich mühen, die Töne kommen im richtigen Moment. Aber selbst bei ihm denkt man wehmütig an seinen spektakulären, nie wiederholten Salzburger Doppelauftritt in beiden Opern vor zehn Jahren zurück. Ailyn Pérez ist eine Nedda mit zu spitzen Sopranhöhen. Immerhin wird es jetzt orchestral saftiger. Daniele Rustioni hält sich, während oben die Nudeln dampfen, nicht mit Italo-Klischees auf, sondern sucht und findet die spannungsreiche Moderne in dieser kontraststarken Partitur, die trotzdem kantabel aufleuchtet.

Migration ohne Moral, die kaum die AfD wird ausschlachten können. Der Ermordete wird zum Mörder, das Opfer ein Täter. Und der Clown zieht weiter. Das ist immerhin eine Alternative zum gängigen Regie-Narrativ vom verrohten, ortlosen, unmoralischen Subproletariat, das die Globalisierung überall gleich trostlos hervorbringt. Doch man hätte sich das klangfreudiger, sangesstärker und kalorienhaltiger, eben doch mit mehr Italianità gewünscht. In Mexiko anno 1970 hat im Finale dann übrigens Brasilien über Italien triumphiert.

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