Seit 1972 mischen die Gebrüder Ron und Russell Mael als Sparks im Musikgeschäft mit. Viele Genres und Künstler wurden von ihrem Artpop massiv beeinflusst. Bis heute berufen sich viele auf die inzwischen 76 (Russell) und 79 (Ron) Jahre alten Musiker aus Kalifornien, die unlängst auch im Filmbusiness angekommen sind. Neben der Doku "The Sparks Brothers" von Kult-Regisseur Edgar White lieferten sie Drehbuch und Musik zu "Annette" mit Marion Cotillard und Adam Driver. Beide Filme erschienen 2021.

Jetzt veröffentlichen Sparks ihr nunmehr 28. Studioalbum. "MAD!" lautet dessen Titel, der zur 50-jährigen Bandgeschichte der aus Kalifornien stammenden Brüder ebenso gut wie zur Weltlage passt. Im Interview mit ntv.de spricht Russell Mael über Inspiration, kreative Prozesse und die düstere politische Situation in den USA.

ntv.de: "MAD!" - ist dieser Titel ein Spiegelbild der aktuellen Weltlage oder doch eher eine persönliche Empfindung?

Russell Mael: Wahrscheinlich ein bisschen von beidem. Es gibt ja mehrere Bedeutungen dieses Wortes. Die zwei Bedeutungen, an die wir dachten, waren Wut und Verrücktheit. Ich denke, der Titel spiegelt gut wider, was gerade vor sich geht. Aber in Bezug auf unser Album erschien uns der Titel passend zu den Songs auf dem Album und ihrer lyrischen Ausrichtung. Und oft wurde Sparks ja auch eine gewisse Verrücktheit zugeschrieben, in beide Richtungen. Insofern ist "MAD!" eine Art Einheitsgröße.

In diesen Songs verarbeiten Sie moderne kulturelle Phänomene. Gibt es da Dinge, die Sie besonders faszinieren oder beunruhigen?

Es ist das Menschsein an sich. Das Blut, das durch die Adern fließt, das Beobachten der menschlichen Natur und des Charakters. Und dann die Fähigkeit, diese Beobachtungen zu nehmen und sie in etwas Frisches und Neues im Kontext von Popsongs zu formen. Wir sind immer aufmerksam für das, was da draußen passiert. Die Kunst ist, diese Beobachtungen zu nehmen und sie auf eine musikalische und lyrische Weise zu vermitteln, die neu ist. Es gibt auch Songs über Beziehungen auf dem Album, aber jeder macht ja Songs über Beziehungen. Es geht darum, wie man diese Songs macht, auf welche Art und Weise, damit es nicht klischeehaft klingt.

Sie inspirieren als Band seit einem halben Jahrhundert so viele Genres und Künstler. Wie schwierig ist es, jetzt noch neue Sounds zu kreieren und sich nicht zu wiederholen?

Es wird schwieriger. Wenn man eine Karriere mit 28 Alben hinter sich hat, möchte man dem Universum treu bleiben, das man mit seiner Musik geschaffen hat. Neue Wege zu finden, um auszudrücken, was man möchte, und es klanglich neu zu präsentieren, wird zur Herausforderung. Je mehr Platten man macht, desto mehr muss man neue Wege finden, die man erobern kann. Wir wollen jedes neue Album so angehen, als wäre es das erste, das jemand von Sparks hört. Es muss so dynamisch, provokativ und eigenwillig sein und so viel Persönlichkeit und Charakter haben wie alles, was wir auf unserem ersten Album gemacht haben.

Glauben Sie, dass es heutzutage für junge Künstler schwieriger ist, ihren eigenen Sound zu finden, weil schon alles mal da war?

Absolut. Ich höre nicht viel wirklich Neues und entdecke auch wenig Besonderes. Gelegentlich gibt es einen Song, der großartig ist, aber im Großen und Ganzen scheint es schwierig zu sein.

Gibt es dennoch junge Bands oder Künstler, die Sie zuletzt begeistern oder inspirieren konnten?

Wir hören uns schon viele Sachen an, allein, um zu sehen, wo wir als Sparks hineinpassen. Aber ich würde nicht sagen, dass wir von irgendetwas Neuem beeinflusst werden. Der Grund, warum wir das tun, was wir tun, ist, dass wir das, was wir gerne in der Musik hören würden, nicht woanders finden. Es fehlt oft der abenteuerliche Geist, den es braucht, um wirklich gute Musik zu machen. Ich denke, es geht heute mehr darum, sich anzupassen. Unsere Mentalität war immer, dass man sich nicht in das einfügen muss, was gerade angesagt ist. Man sollte nicht Teil irgendeines Trends sein. Die Bands, die wir wirklich mochten, haben ihr eigenes Universum erschaffen und sind nicht Teil irgendeiner Bewegung gewesen.

Sie haben in den vergangenen 50 Jahren viele Veränderungen in der Musikindustrie erlebt. Was war die einschneidendste? Und wie stehen Sie Neuerungen wie KI gegenüber? Ist das eine echte Gefahr oder auch eine Chance?

Uns ist es eigentlich egal, was die Industrie macht. Die Veränderungen waren aber immer eher zum Schlechteren. Es gibt nur noch wenige große Label-Konglomerate. Wenn man sich Sorgen um die Industrie macht, ist man im falschen Geschäft. Wir haben uns nie darum gekümmert, was da passiert. Ich denke, das ist ein Grund, warum die Musik jetzt weniger inspiriert ist, weil die Leute sich darum kümmern, wie sie vorankommen können, anstatt kreative Musik zu machen. Das sollte immer das Ziel sein. Was KI angeht, bin ich dafür, wenn sie für medizinische Forschung eingesetzt wird. Aber wenn es ein einfacher Weg für jemanden ist, kreativ zu sein, indem er ein paar Schlüsselwörter eingibt und dann ein Song oder eine Geschichte herauskommt, dann ist das kontraproduktiv. Es ist zu einfach und nicht kreativ. Es ist der Wunsch, einen einfachen Weg zu finden, etwas Kreatives zu tun, von dem man nur denkt, es sei kreativ.

Sparks ist mehr ein Kunstprojekt als nur eine Band. Wie finden Sie die richtigen Leute für die Zusammenarbeit? Ist es all die Jahre das gleiche Team geblieben?

Das Team sind im Grunde Ron (Mael) und ich. Und wenn wir aufnehmen und live spielen, haben wir eine wirklich gute Band dabei. Aber um rein zu sein, ist es besser, wenn es nur von uns beiden kommt. In der Vergangenheit hatten wir großartige Produzenten wie Tony Visconti, Giorgio Moroder, Todd Rundgren und Muff Winwood. Wir haben von ihnen gelernt und sind jetzt in der Lage, unsere eigenen Platten zu produzieren. Das Team sind also auch hier Ron und ich. Aber unsere Live-Musiker sind Teil des Geistes dessen, was wir tun. Auch auf der Platte kommen Gitarre und Schlagzeug von anderen Leuten.

In den letzten Jahren haben Sie den Weg ins Filmgeschäft gefunden. Sind weitere Projekte in dieser Richtung geplant?

Wir arbeiten an einem neuen Filmmusical namens "Excrucians". Es wird ein Film sein, in dem die Dialoge alle gesungen sind. Vor etwa einem Jahr waren wir auf der Suche nach einem Regisseur und lasen in einem Interview mit John Woo, dass er ein Musical machen will. Wir waren überrascht, dass er das noch nie getan hatte, aber fanden es auch großartig. Also nahmen wir Kontakt zu ihm auf, obwohl wir nicht erwarteten, dass er für unseren Stil empfänglich sein würde. Aber wir halten ihn für einen großartigen Regisseur. Er kam vorbei, hörte sich die Musik und das Drehbuch an und sagte, er liebe es und wolle Regie führen. Es ist also ein ziemlich irres Projekt, aber wir freuen uns darauf.

Dauert das noch ein paar Jahre oder ist es noch in Planung?

Es ist noch in der Vorproduktion. Aber wir haben großartige Produzenten an Bord. Es wird noch eine Weile dauern. Von der Idee zu "Annette" bis zur Veröffentlichung dauerte es neun Jahre. Wir hoffen, dass es diesmal schneller geht.

Im Juni steht die Tour an. Gibt es Unterschiede zwischen dem Publikum in Japan, Europa und den USA?

Es scheint, als ob überall auf der Welt alles andere eingeholt hat, im positiven Sinne. Die Reaktionen auf unsere Live-Auftritte sind immer stark und die Fans sind begeistert. Bestimmte Orte machen einfach Spaß. Das Bild von Japan ist, dass das Publikum dort sehr zurückhaltend ist, aber das stimmt nicht. Sie sind genauso verrückt wie überall sonst. Die Reaktionen sind also ähnlich. Aber wir lieben es, andere Kulturen zu sehen und wie sie reagieren. Jeder Ort hat seine Eigenheiten, und das macht es interessant und lustig.

Wie sehen Sie die aktuelle Situation in den USA? Wie fühlt es sich an, in L.A. zu leben?

Wir geraten in Panik. Es ist schlimmer, als wir es uns vorgestellt hatten, weil man die Unmenschlichkeit nicht begreifen kann. Es muss vielleicht noch viel schlimmer werden, bis die Leute aufwachen und etwas dagegen tun. Wenn sich alle mit einer autoritären Regierung abfinden, kann es nicht ewig so weitergehen, ohne dass es eine öffentliche Reaktion gibt. Wir sind zum ersten Mal ein isolationistisches Land, und das Bild von uns als Amerika, das allein gegen die ganze Welt kämpft. Wenn Kanada dein Feind wird, muss man sich fragen, was los ist. Das ist nicht gut.

Wäre Auswandern eine Option für Sie? Vielleicht nach Kanada?

Nein, da würden wir vor Langeweile sterben. Aber wenn es hart auf hart kommt, wäre es einfacher, woanders hinzugehen und zu ignorieren, was hier passiert. Wenn die Situation noch viel schlimmer wird, gibt es andere Orte. Japan ist ein schönes Land.

Was können die Fans erwarten, die zu Ihren Shows kommen?

Die Leute, die zu Sparks-Shows kommen, wollen überrascht werden von dem, was sie sehen und hören. Wir spielen nicht unbedingt die Songs, die sie erwarten. Wir werden Stücke von unseren 28 Alben spielen. Da wir nur etwa 21 oder 22 Songs live spielen, werden einige Alben zu kurz kommen. Aber wir versuchen, Nummern zu spielen, die wir noch nie zuvor performt haben, sowie bekannte Songs, die wir nicht weglassen können. Und wir werden einiges vom neuen Album spielen, weil wir stolz darauf sind und es klanglich gut zu unseren anderen Sachen passt. Wir finden die Präsentation immer aufregend und es sieht nie so aus, als ob da eine Band mit einer 28 Alben langen Geschichte auf der Bühne steht. Darauf sind wir stolz.

Mit Russell Mael von Sparks sprach Nicole Ankelmann

Das Album "Mad!" ist ab sofort überall erhältlich.

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