Die „Tagesschau“ ist die heilige Kuh der öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendungen. Durchschnittlich knapp zehn Millionen Zuschauer schauen die Hauptnachrichten von 20 bis 20.15 Uhr auf unterschiedlichen Kanälen, vor allem im Ersten, aber auch in vielen dritten Programmen, bei Phoenix und 3sat, natürlich auch im Spartensender Tagesschau24.

Wenn also wie in der vergangenen Woche Spekulationen um größere Veränderungen bei der „Tagesschau“ in Branchendiensten auftauchen, dann schaut die Medienwelt hin. Worum ging es? Laut den Berichten, zuerst war der Dienst „Medieninsider“ damit online, werde in der ARD der Plan geprüft, die „Tagesschau“ auf 30 Minuten zu verlängern. Zunächst beschränkt auf den Montag.

Denn der Montag soll nach den Vorstellungen von ARD-Programmdirektorin Christine Strobl zum „Informationstag im Ersten“ werden. Das aber schon seit 2021, beispielsweise mit Dokumentationen, „Hart aber Fair“ und „Maischberger“. Von Strobl stammt offenbar auch der Vorschlag für die Langversion der „Tagesschau“. Zwei Probesendungen sollen dazu gerade produziert worden sein. Nicht zur Ausstrahlung gedacht, sondern um mit einer internen Medienforschung herauszufinden, ob eine längere „Tagesschau“ Anklang beim Publikum finden könnte.

Offiziell kommentiert hat das bisher kaum jemand aus der ARD-Führungsriege, die entsprechende Stellungnahme geht so: „Wir bitten um Verständnis, dass wir uns zu programmstrategischen Überlegungen, redaktionellen Planungen und internen Abstimmungsprozessen nicht äußern.“ Auch bei ARD aktuell vom NDR, wo die Nachrichtensendungen entstehen, scheint man weitgehend im Dunkeln zu tappen, wie ernst gemeint die Idee ist. Tatsache ist nur, dass getestet wird.

Immerhin: WDR-Programmdirektor Jörg Schönenborn äußerte sich in der Deutschlandfunk-Sendung „Mediares“ mit einer Bestätigung inklusive Erläuterung: „Es ist eine Idee, die unsere Nachrichtenprogramme für den Alltag stärker öffnet …Und wenn wir Informationen ausbauen, wenn wir in einer Sendung wie der ,Tagesschau‘ mehr Zeit widmen, dann ist das die Chance, die Klammer zu schaffen vom Alltag, den ich erlebe, wo übrigens auch ganz viele Dinge funktionieren oder lösbar sind, und den großen Problemen der Welt. Das ist die Idee, wenn wir Informationsformate größer, breiter, länger machen.“

„Werden uns das anschauen“

Doch ob der Plan auch umgesetzt wird, ist natürlich unklar. Dazu sagte Schönenborn: „Wir werden uns das anschauen.“ Das sich ausgerechnet der WDR-Mann dazu äußerte, ist insofern interessant, weil sich im Kreis der Intendanten, die den Plan bereits im vergangenen Jahr ventilierten, dem Vernehmen nach auch der WDR kritisch zu dem Vorhaben positioniert hatte. Bis zu der Möglichkeit, bei einer Verlängerung der „Tagesschau“ trotzdem im Dritten um 20.15 Uhr aus der Sendung auszusteigen.

Einfach so durchsetzen lässt sich eine Verlängerung weder für den Montag und erst recht nicht für die gesamte Woche. Dazu bräuchte es zusätzlich zu den Abstimmungen der ARD-Landesrundfunkanstalten zusätzlich eine Abstimmung mit dem ZDF. Dazu käme gewissermaßen als Kollateralschaden die Beendigung des Formats „Brennpunkt“, das in Nachrichtenlagen nach 20.15 Uhr angesetzt wird.

Womit man bei den zwei Dimensionen ist, um die es hier geht. Erstens die strukturellen Konsequenzen. Zweitens die inhaltliche Bedeutung. Strukturell ist nahezu die gesamte Fernsehlandschaft inklusive der Privatsender am Abend auf die Uhrzeit 20.15 Uhr ausgerichtet. Ändert die „Tagesschau“ ihre Zeit nach hinten raus, könnte das einen Dominoeffekt auf andere Programme haben – oder schlecht für die „Tagesschau“ ausgehen, wenn die anderen Sender mit ihren Filmen und Serien bei 20.15 Uhr bleiben.

Auch wenn die Zukunft des Fernsehens non-linear ist, die Zahlen der „Tagesschau“ belegen, dass vor allem ein älteres Publikum an das Programmschema gewöhnt ist. Wie könnte es anders sein? Vor 20 Uhr würde die ARD die „Tagesschau“ wiederum nicht beginnen lassen, weil die öffentlich-rechtlichen Sender bis 20 Uhr Werbung ausstrahlen dürfen, und hier sind vor allem die Werbeplätze direkt vor der „Tagesschau“ höchst lukrativ.

Die inhaltliche Dimension betrifft den Charakter der „Tagesschau“ und die der anderen Nachrichtenformate. Es ist richtig, dass in 15 Minuten nicht im Ansatz eine komplette Berichterstattung aus Deutschland und der Welt geliefert werden kann. Daher mag es Sinn ergeben, den Menschen, die noch nicht nachrichtenmüde und vom Weltgeschehen frustriert auf dem Sofa dahingedämmert sind, mehr zu bieten. Im Sinne von Schönenborn: größer, breiter, länger.

Auffällig ist unterdessen, dass die „Tagesschau“ in den vergangenen Monaten bereits „magaziniger“ geworden ist, also mehr kurze Interviews und Mini-Features eingestreut werden, um die Abwechslung zu erhöhen. Das geht freilich auf Kosten der Menge an Informationen. Und 30 Minuten mit einer Nachricht nach der anderen wäre erst recht schwer durchzuhalten, selbst für hochgradig interessierte Zuschauer.

Unterscheidbarkeit zu den „Tagesthemen“ verschwände

Schließlich wäre die Unterscheidbarkeit von den „Tagesthemen“ nicht mehr gegeben, die letztlich die magazinige Version der „Tagesschau“ ist. Eine der Probesendungen soll laut „Medieninsider“ Ingo Zamperoni moderiert haben. Der sonst bekanntlich durch die „Tagesthemen“ führt. Die könnte man sich dann, außer es passiert noch etwas Aktuelles, am späteren Abend auch sparen.

„Die Idee ist nicht neu“, kommentierte der ehemalige ARD-Chefredakteur Ulrich Deppendorf über das Netzwerk LinkedIn. In den 90er-Jahren hätte man als Reaktion auf einen Privatsender, der schon um 20 Uhr mit Filmen loslegte, die „Tagesschau“ bewusst um 5 bis 10 Minuten verlängert. Als Gegenmaßnahme zur Abwanderung. Der Wiederauflage der Idee kann Deppendorf allerdings nicht viel abgewinnen. Das Erfolgsgeheimnis der Nachrichtensendung sei ihre Länge, bzw. Kürze von 15 Minuten: „Um diese Form beneidet uns das Ausland“, schrieb er.

Bleibt zu fragen, ob 15 Minuten mehr „Tagesschau“ wirklich einen Unterschied machen in einer ohnehin fragmentierten Medienwelt. Für die rund zehn Millionen Zuschauer täglich machen sie das vermutlich schon. Einer Vielzahl dieser Menschen sind Rituale beim Nachrichtenkonsum offenbar noch wichtig. Gewohnheiten lassen sich zwar verändern, das dauert aber seine Zeit. Die Gretchenfrage bleibt, ob mehr Nachrichten eine Erwartungshaltung der ohnehin nachrichtenaffinen Menschen bedient. Die gerne mehr wissen wollen. Oder ob dann auch Teile dieser Gruppe lieber vorzeitig aussteigen. Weil es dann auch mal reicht.

Kenner der schwer zu durchschauenden ARD-Strukturen und Entscheidungswege haben es mit dieser Frage leichter, weil sie diese im Zweifel gar nicht beantworten müssen. Da heißt es dann: So interessant der Plan auch sei – umgesetzt werde er ohnehin nicht.

Christian Meier ist WELT-Medienredakteur. Wenn es mit den Abläufen in der Familie passt, schaut er die „Tagesschau“ linear. 30 Minuten würde er um diese Uhrzeit aber nicht durchhalten, weil da das Tagwerk noch gar nicht beendet ist.

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