Dass man hier einmal so liegen würde, einen Plastiksack mit Wasser auf dem Bauch und einen rot umhäkelten Stein in der Hand – wer hätte das gedacht? Man kann sich auch Muschelschalen nehmen oder verpackte Kaffeebohnen, aber im Moment ist man ganz zufrieden so, umgeben von einem Gaze-Vorhang, der einen notdürftig von der wandlosen Weite der Neuen Nationalgalerie separiert.

Die Matratze, die dem Besucher der Ausstellung von Lygia Clark zum Liegen angeboten wird, ist mit winzigen Styroporkügelchen gefüllt. Ihre Hülle ist durchsichtig und riecht stark nach Plastik wie ein neu gekauftes Schwimmtier. Entspannung, Urlaubsgefühle und die latente Peinlichkeit, hier als Kunstbetrachter sozusagen selbst ausgestellt zu sein, verbinden sich zu einer neuartigen Museumserfahrung.

Lygia Clark (1920–1988) schuf dieses Setting zur „Strukturierung des Selbst“ in den 1970er-Jahren. Ihre „Objetos relacionais“ (relationalen Objekte) haben einen therapeutischen Ansatz. Nachdem sie sich in den 1950ern von abstrakten Gemälden hin zu benutzbaren Objekten und schließlich zu Performances entwickelt hatten, ließ Clark ihre künstlerische Praxis in Psychotherapie münden. In ihrer Wohnung in Rio de Janeiro empfing sie ab 1976 ihre Klienten für eine Stunde und gab ihnen Dinge, die sie betasten, riechen oder auf sich ruhen lassen konnten.

Kannibalismus für Frutarier

So wie wir jetzt, nur ohne Clarks Beisein. Den Stein mit dem weichen Wollstoff drücken, hilft gegen Grübelei; das lauwarme Wasser wirkt wie eine invertierte Wärmflasche. Einatmen, ausatmen. Wie aber wird dieses eher intim gedachte Setting funktionieren, wenn Dutzende Museumsbesucher zugleich mit den Muscheln, Kissen und Häkelsteinen hantieren? Die Gleichung, die Clarks Mitmachkunst aufmacht, hat eine große Unbekannte: den teilnehmenden Betrachter.

Immerhin kann man auch den anderen zuschauen: Während man liegend sein Selbst neu strukturiert, wird gerade die Performance „Cannibalismo“ von 1969 eingeübt. Ein Mann liegt in einem eigens angefertigten Anzug auf dem Boden. Sein schwarzer Overall mit Kapuze – zwischen Taucheranzug und spanischem Büßergewand – verfügt über eine Bauchtasche, aus der fünf Performer mit verbundenen Augen Bananen und Äpfel herausnehmen, um davon abzubeißen und den Mann zu füttern. Es sieht seltsam aus, intim, aber nicht unanständig, nur seltsam.

Donnerstags zwischen halb sechs und halb acht sowie sonntags zwischen zwölf und zwei Uhr mittags kann man bei Clark-Performances zusehen. Der simulierte Kannibalismus ist dabei nicht die seltsamste Aktion. Bei „Baba Antropofágica“ werden mit Speichel getränkte Baumwollfäden auf eine Person drapiert bis sich eine Art Kokon bildet.

In „Túnel“ von 1968 kriechen zwei Menschen durch einen zu engen Stofftunnel, für „Corpo Coletivo“ von 1970 steigen Menschen in bunte Overalls, die an manchen Stellen zusammengenäht werden. Sie versuchen dann, sich als Einheit zu bewegen. Mit „O Eu e o Tu“ (Das Ich und das Du) entwarf Clark zwei Plastikanzüge, mit denen sich zwei Menschen gegenseitig betasten können. Selbsterkundung durch sinnliche Erfahrung, und das alles während der Militärdiktatur in Brasilien, die menschliche Körper einsperrte, verletzte und tötete.

Clark – eine Instanz des „Neoconcretismo“

Lygia Clark ging ins Exil. Sie lebte ab 1968 in Paris, wo sie bereits in den 1950ern studiert hatte, bei Fernand Léger und unterrichtet. Clark ist – kaum zu glauben – die erste lateinamerikanische Künstlerin, die in der Halle der Neuen Nationalgalerie eine Einzelausstellung bekommt. Das ist einerseits ein Anknüpfen an die Geschichte des Baus, denn ursprünglich hatte Mies van der Rohe den ikonischen Glastempel für die Firma Bacardi in Kuba entworfen.

Andererseits ist es eine Herausforderung, denn die meisten Besucher werden den Namen Lygia Clark wohl noch nie gehört haben. In der globalisierten Kunstgeschichte ist sie mittlerweile eine feste Größe, wie die anderen brasilianischen Neokonkreten, die in Europa bereits in großen Häusern gezeigt wurden, Hélio Oiticia etwa oder Lygia Pape.

Global war die moderne Kunst aber immer schon. Vor allem der Schweizer Max Bill wirkte auf die brasilianische Kunstszene ein. Während Max Bills konkrete Kunst sich auf mathematische Gesetze berief und an der Distanz zwischen Kunstwerk und Betrachter festhielt, versuchten die brasilianischen Künstler des „Neoconcretismo“, die Schwelle zwischen Mensch und Objekt einzuebnen.

Die sich endlos selbst verschlingende Möbiusschleife ist bei Max Bill aus Stein oder Bronze, bei Lygia Clark kann man sie sich selbst aus einer Papierbanderole schneiden und zusammenkleben. Ob das am Ende mehr bringen wird als Basteln im Museum? Hauptsache man erfährt sich, würde Lygia Clark sagen.

Die Entregelung der Sinne ist das Ziel, wenn man sich etwa „Sinnesmasken“ aufsetzt, in die Objekte eingenäht sind und die mit Spiegeln und Düften die Wahrnehmung unterminieren. Clarks Werk hat manchmal auch etwas Albernes. In der 1968 für die Biennale von Venedig konzipierten Installation „A Casa é o Corpo“ (Das Haus ist der Körper) will sie einen Geburtsvorgang erlebbar machen, bei dem man sich im Dunkeln über Gummibälle bewegt und durch eine Art Tunnel aus Netzmaterial tapst. Die darin von der Decke hängenden Hanffäden, man sei gewarnt, pappen an der Kleidung fest. Die Geburtserfahrung endet mit dem Schrei nach einer Fusselrolle.

Begriffe wie Selbsterfahrung, Partizipation oder Environment sind aus der Gegenwartskunst nicht wegzudenken, einen wichtigen Ursprung haben sie in Brasilien. Wie Oiticica war auch Clark Mitglied der Gruppe Frente (Front), die ab Mitte der 1950er mit geometrischer Abstraktion arbeitete. Aber Clark wie Oiticica blieben nicht lange am Bild kleben. Beide wurden Teil des Neokonkretismus, der die kühle, erhabene Abstraktion sinnlich erfahrbar machte. Man sollte nicht einfach dastehen und nachdenklich schauen, sondern Benutzen, Eintauchen, Versinken, sich Dinge überstülpen oder in den vom Künstler vorgeschlagenen Konfigurationen aufhalten.

Therapeutische Bastelstube

In der Berliner Retrospektive kann man nachverfolgen, wie die Brasilianerin dorthin kam. Die in bürgerliche Verhältnisse geborene Tochter eines Bergbauingenieurs begann, wo die Kunst Anfang der 1950er eben stand: mitten in der Abstraktion. Clarks frühen Gemälde sind in gedeckten Farben gehalten und bewegen sich stilistisch zwischen Fernand Léger, bei dem sie in Paris studierte, und Piet Mondrian – reizvoll, aber nicht revolutionär.

Dann passierte etwas Erstaunliches. Rahmen und Bild verschmelzen, Gemälde sind nun Objekte, aus farbigen Holzstücken zusammengesetzt. Die Farbe ist Autolack oder Tinte, sodass man keine Handschrift mehr erkennen kann. Clarks „Kokons“ und „Gegenreliefs“ kommen fast ohne Farbe aus, wölben sich aber in den Raum vor.

Es ist, als seien die Formen um 1960 von der Wand heruntergesprungen und zum Leben erwacht. Die „Bichos“ (Kreaturen oder Wesen) bestehen aus Aluminiumplatten, die mittels Scharnieren verbunden sind. Man kann, man soll sie in die Hand nehmen und immer neue Konfigurationen ausprobieren. Das klappert und wirkt erst einmal albern, aber man lernt schnell, dass die entstehenden Formen nicht beliebig sind. Für Berlin wurden Nachbauten der „Bichos“ geschaffen und auf mit brombeerfarbenen Textil bezogene Sockel gelegt.

Auch die (dem Zugriff des Publikums entzogenen) Originale sieht man nun anders an, und das nicht, weil sie vielleicht schon Patina haben. Man weiß aus der eigenen Hantier-Erfahrung, dass keine dieser Formen endgültig ist – die „Bichos“ werden immer wieder neu konfiguriert. Doch wie man so ein Alutierchen auch dreht und wendet, es lässt sich partout nicht mehr zu einer Fläche machen.

Die Kunst ist endgültig von der Wand und in den Raum gehüpft. Zumindest für Lygia Clark führte kein Weg zurück zur flachen Leinwand. Die Performances, die Therapie-Settings, das wird klar, waren Stationen auf einem früh eingeschlagenen Weg, den sie mit Konsequenz beschritt.

„Jedes Bicho“, schrieb Clark, „ist eine organische Einheit, die sich in ihrer eigenen Geschwindigkeit in Gänze offenbart. … Es ist ein lebender Organismus, ein Werk, das im Wesentlichen durch die Handlung bestimmt wird.“ Doch ein Werk, das vor allem auf Interaktion und Erfahrungen setzt, ist schwerer zu vermitteln als eines, das sich auf ikonische Einzelwerke stützt.

Der menschliche Faktor, die Handlung, zählt. Also ist es im Moment noch unvorhersehbar, ob die Neue Nationalgalerie für die kommenden Monate den Rahmen für die Entdeckung einer großen Künstlerin bilden wird – oder die Kulisse für eine therapeutisch angehauchte Bastelstube.

„Lygia Clark. Retrospektive“, bis 12. Oktober 2025, Neue Nationalgalerie, Berlin

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