Ist ganz Wien nun vom V-Effekt erfasst? „V Is for Love“ heißt es bei den Wiener Festwochen, sprich „We“ wie „Wir“. Bei der großen Eröffnung vor dem Rathaus wird das Gemeinsame zelebriert: Trachtenkapelle und Kinderchor, Oper und Punk, eine bunte musikalische Mischung. Während der Auftritt von Performancelegende Laurie Anderson von Palästina-Sprechchören gestört wird, herrscht bei „Ein bisschen Frieden“ von Nicole, die damit 1982 den ESC gewann, beste Schunkelstimmung.
Die bunte Mischung wird von Milo Rau, dem Leiter der Wiener Festwochen, zum Programm erhoben. Wenn die FPÖ in ihrem Wahlprogramm fordert, dass in der „Festung Österreich“ das Geld für ESC und Festwochen an Blaskapellen und Chöre gehen soll, dann bringt Rau eben alle zusammen auf die Bühne. Da ist es, das große Wir: Festwochen statt Festung, Republik der Liebe statt Tyrannei des Hasses. Bunte Fahnen werden geschwenkt, es wirkt ein bisschen wie auf einem 1980er-Jahre-Friedenskonzert.
Doch Rau wäre nicht Rau, wenn der Kontrapunkt zum Kitsch nicht auch dazugehörte: In ihrer „Rede an Europa“ kritisiert die Philosophin Lea Ypi, dass sich politische Rhetorik heute nur noch auf Fragen der Zugehörigkeit beschränke. Dem nationalen Wir der Rechten halten die Linken ihr buntes Wir entgegen. Weil die Linke jedoch vergessen habe, über Interessen oder Klassen zu sprechen, besitze sie keine zukunftsweisende Idee, so Ypi, die mit ihrem albanischen Memoir „Frei“ berühmt wurde.
Öffentlicher Gebrauch der Vernunft
Am mit Israel-Flaggen geschmückten Judenplatz verteidigt Ypi den Universalismus der Aufklärung, wie sie ihn bei jüdischen Intellektuellen wie Gotthold Ephraim Lessing beschrieben findet. Mit ihrer scharfen, brillanten Rede verkörpert sie das Ideal vom öffentlichen Gebrauch der Vernunft, das sich gegen alle Einschränkungen, ob von rechts oder links, verwehrt. Sie zeigt, dass Aufklärung auch heute nicht nur Kritik verwerflicher Ideen meint, sondern die Kritik ihrer notwendigen Bedingungen.
Zur Grundsatzkritik holt auch Rau mit „Burgtheater“ aus: 40 Jahre lang hat Elfriede Jelinek die Aufführung des „Skandalstücks“ untersagt, das Rau jetzt in einer Neufassung auf die Bühne des Burgtheaters gebracht hat. Bei Jelinek geht es, wie in Klaus Manns „Mephisto“, um wandlungsfreudige und regimetreue Künstler am Beispiel der berühmten Burgschauspielerin Paula Wessely und ihrem Mann Attila Hörbiger, die nicht nur unter den Nazis Karriere machten, sondern auch danach.
Das Übel liegt für Rau im traditionellen Schauspielertheater. Wie bei Walter Benjamins berühmtem Schachautomaten ist der Künstler nur eine Puppe, die von einem hässlichen Zwerg gesteuert wird, eine fremde Stimme spricht durch ihn. Was die Schauspieler bereitstellen, ist die wahre (oder Ware) Künstlerkraft mit all ihren hypnotischen Effekten. Die bekommt, wer sie kaufen oder mit Gewalt an sich reißen kann. Das Heilmittel gegen Theaterentfremdung ist für Rau der Bruch mit dem Illusionismus.
So erzählt er nicht die eine große Geschichte – aus Jelineks Stück werden nur Szenen gespielt, in überdrehter Manier –, sondern lässt die Schauspieler ihre Geschichten erzählen. Da tritt Mavie Hörbiger als Nachfahrin von Wessely und Hörbiger auf. Caroline Peters berichtet, wie sie als Kind die Uraufführung von „Burgtheater“ in Bonn besuchte. Wer dem Einfühlungstheater bisher nicht misstraute, bekommt von Birgit Minichmayr als Wessely-Double in Nazi-Filmen das Fürchten gelehrt.
Andere Geschichten knüpfen lose thematisch an „Burgtheater“ an, etwa an die Blitzbekehrung nach 1945: „Hitler ist noch nicht kalt, da ist Österreich schon antifaschistisch“, heißt es bei Jelinek. Wie antifaschistisch ist die Alpenrepublik heute? Dass sich die FPÖ als Schutzmacht der Juden aufspielt, während man „Gebt Gas … wir schaffen die siebte Million“ singt (wie im „Liederbuch-Skandal“ bekannt wurde), nimmt Rau als Beleg für eine tief sitzende Verlogenheit bezüglich der Vergangenheit.
Annamária Láng aus Ungarn und Itay Tiran aus Israel, mit Davidstern-Superman-Shirt, erzählen, wie ihnen als „Ausländern“ im Ensemble feste Rollen zugewiesen wurde. Mit solchen Überblendungen von künstlerischer und sozialer Rolle arbeitet das Metatheater von Rau. Dass der sein erzählerisches Mitbestimmungstheater mit großer Entschiedenheit gegen das traditionelle Schauspiel, wie es das Burgtheater verkörpert, ins Feld führt, sorgt allerdings ebenso wenig für einen Skandal wie Jelineks Stück.
Die Wiener Festwochen als Anti-Burgtheater? Im Programm jedenfalls finden sich ganz verschiedene Theaterformen. Eine bildgewaltige „Mutter Courage“ hat da ebenso ihren Platz wie Extremperformances. So hat das legendäre Kollektiv Signa eine beklemmend realistische Demenzklinik aufgebaut, in der man sechs Stunden sein „pflegebedürftiges Ich“ entdeckt – inklusive Pflegekleidchen – und sich auf den eigenen Tod vorbereitet. So unter die Haut geht Theater selten.
Auch mit Blick auf weitere Höhepunkte wie „Der Prozess Pelicot“ oder das Streitformat „Wiener Kongresse“ darf man vermuten, dass der neue V-Effekt Verstörung statt Verfremdung meint. Für das Theater ist das ein Glücksfall.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.