Andris Nelsons steht – zu Ehren von Dmitri Schostakowitsch, dem Komponistenjubilar des Jahres – als Auge inmitten eines Klangorkans, wie ihn die Musikgeschichte noch selten erlebt hat. Der Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra und 21. Gewandhauskapellmeister stellt sich einem einzigartigen Marathon. Binnen 18 Tagen dirigiert er in elf Konzerten 14 der 15 Sinfonien Schostakowitschs, dessen 50. Todestag am 9. August gedacht wird, plus vier der Solokonzerte mit drei Orchestern. Zudem gab er gerade sein überfälliges Leipziger Operndebüt mit zwei Aufführungen von Schostakowitschs berühmtester Oper „Lady Macbeth von Mzensk“.

Mit großen Klang- und Komponistenfesten möchte die Musikstadt Leipzig seit einigen Jahren auch touristisch ihren Ruf festigen. Seinen historischen Ursprung hat das Schostakowitsch-Fest darin, dass einst Gewandhauskapellmeister Kurt Masur über zwei Spielzeiten den ersten Zyklus aller Schostakowitsch-Sinfonien aufführte. Jetzt wird die ganze Vielfalt des größten Sinfonikers des 20. Jahrhunderts ausgebreitet. Zu hören sind auch Auszüge aus den Bühnen- und Unterhaltungsmusiken, mit denen sich Schostakowitsch – politisch und ästhetisch gebrandmarkt – in finstersten Zeiten sein Geld verdienen musste. Und – gespielt vom Quatuor Danel – die 15 Streichquartette.

Damit nicht genug. Die Lettin Baiba Skride, die Nelsons ein wenig als seine Talisfrau für besondere Gelegenheiten begreift, spielt die Violinkonzerte, Gautier Capuçon die Cellokonzerte, Daniil Trifonov die Klavierkonzerte; zu dritt und erweitert um Nicolaj Szeps-Znaider und Antoine Tamestit widmen sie sich in diversen Konzerten der Kammermusik. Lieder und Filmdokumentationen kommen zur Aufführung. Ende Juni geht es dann weiter nach Gohrisch im Elbsandsteingebirge, zum einzigen, seit 16 Jahren abgehaltenen regulären, sehr feinen Schostakowitsch-Festival, das aus Reihen der Dresdner Staatskapelle initiiert wurde.

Nach Leipzig hat der 46-jährige Nelsons auch sein Boston Symphony Orchestra eingeladen, mit dem er bereits eine umfassende Schostakowitsch-Box bei der Deutschen Grammophon eingespielt hat. Die Amerikaner waren eine Woche da. Zudem tritt ein aus Studenten der Leipziger Mendelssohn-Orchesterakademie, des Tanglewood Music Center Orchestra und der Musikhochschule Felix Mendelssohn Bartoldy gebildetes Festival Orchestra auf, dem Nelsons‘ ehemalige Assistentin Anna Rakitina vorsteht (die auch die 1. Sinfonie interpretieren darf). Insgesamt 50.000 Karten sind aufgelegt, Besucher aus 40 Ländern haben sie erworben; auch wenn es erst in den letzten drei Wochen so richtig beim Verkauf loszog. Schostakowitsch ist eben (noch) nicht Beethoven.

Inzwischen ist auch das neue Gewandhaus Radio auf Sendung. Und um das letzte Wochenende hin wurde der Höhepunkt des drei Jahre geplanten Festivals genau in der Laufzeitmitte angesteuert – drei gemeinsame Konzerte von Gewandhausorchester und Boston Symphony mit der 7. Sinfonie, der so bedeutungsvollen „Leningrader“, sowie die „Lady Macbeth“ in der Oper.

Die seltenen Zusammenschlüsse der beiden Nelsons-Orchester sind etwas sehr Außergewöhnliches, zuletzt geschah es 2019, als beide Klangkörper zum Abschluss des Deutsch-Amerikanischen Kulturjahres gemeinsam in Boston vor Bundespräsident Walter Steinmeier mit Strauss auftraten. Solche Aktionen schweißen ungemein zusammen. Das war auch jetzt mit der Leningrader Sinfonie zu erleben – und ist es noch auf Arte/concert. Die wurde ein packend dichtes – und gerade in dieser Zeit wichtiges – Antikriegsfanal. Pointiert direkt in seiner schneidenden Melodik, peitschend in seiner Rhythmik, verloren in der melancholischen Mechanik des Tötens, Zerstörens und Sterbens. Das Bekenntniswerk als Bekenntnisaufführung bis zum nervenfetzenden Finale.

„Meine Generation hatte es in der russischen Perestrojka-Zeit viel leichter, den gesamten Schostakowitsch auf endlich undogmatische Weise kennenzulernen“, sagt für die Jüngeren die ukrainisch-russischstämmige Anna Rakitina. „Ich bin immer wieder überwältigt von diesem Leben wie von diesem Werk. Jede Sinfonie erzählt ein anderes, neues, mal trauriges, mal fröhliches, aber immer extrem zeitbezogenes Kapitel: Schostakowitschs Lebensumstände haben sich stets unmittelbar in seiner Musik niedergeschlagen. Sie ist ein klingendes Zeugnis des komplexen 20. Jahrhunderts mit all seinen politischer Verwerfungen, seinen Irrungen wie Wirrungen. Ich bin stets aufs Neue fasziniert, wie er dem Klang Gestalt verliehen hat und wie er einen einmaligen persönlichen Stil variiert wie verfeinert hat. Jeder Orchestermusiker sollte diese unglaublichen 15 Werke einmal gespielt haben.“

Und die „Lady Macbeth“ auch, die Andris Nelsons jetzt so unglaublich akribisch und streng, fordernd, aber auch klangsinnlich in der Oper Leipzig aufführte. Und deren bestens bewahrtes Sixties-Ambiente, sie ist der einzige große Opernneubau der DDR, passt wie eine reale Komsomolzentheater-Kulisse dazu. In seiner etwas statischen Inszenierung von 2024 zeigt Francisco Negrin die aus Liebes- wie Lebensfrust mordende Katerina Ismailova zwischen Zwanziger-Expressivität, stilisierter Folklore und Beamten-Parodie, bis sie endlich am Ende mit allen anonymen Mitgefangenem in einem sibirischen Straflager auf jetzt leerer Bühne versinkt. Ein Opfer der Verhältnisse, aber kein besonders sympathisches.

Nelsons formt musikalisch präzise, holzschnitthafte Charaktere. Seine Ex-Frau Kristine Opolais schreit Sehnsucht wie Verzweiflung heraus. Pavel Černoch hat genau den fies-weißen Tenor für ihren opportunistischen Liebhaber Sergej. Matthias Stier ist ihr schwächlich quengelnder Mann Sinowij, Dmitri Beloselski der bassbös-übergriffige Schwiegervater Boris, Ivon Stanchev ein noch abgründiger gröhlender Pope.

Den genuinen Operndirigenten Andris Nelsons, den man gegenwärtig leider nur noch so selten im Graben erlebt, interessieren die präzise hervorpräparierten Momente des kleinen Glücks, wie der Schadenfreude seiner durchwegs miesen Figuren. Aber er lässt es auch famos knattern (mit Banda in den Zuschauerlogen), wenn knickbeinig die schweinsgesichtige Polizeipatrouille aufmarschiert. Immer bleibt aber klar, das ist ein hellsichtiges Stück auch über stalinistische Gewalt und Menschenverachtung – ein Musikthema taucht später in der Siebten wieder auf –, und Stalin, der das Werk hasste und verbieten ließ, hatte das natürlich sehr gut verstanden.

Und es hört sich in Leipzig durchaus so an, als habe Schostakowitsch, dessen Leben wie Werk durch die nationale wie internationale Politik geformt worden ist wie das kaum eines anderen bedeutenden Tonkünstlers (seinen immer noch zu entdeckenden polnischen Freund Mieczysław Weinberg einmal ausgenommen), auch und gerade mit dem Datum seines Todestags in diesen bedenklichen Zeiten klanglich ein Zeichen setzen wollen. Hört hin, mit offenen Ohren! Vor allem auf das, was er durch seinen idealen Interpreten Andris Nelsons zu sagen hat.

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