Physiklehrer, Realisten und Menschen, die sich mit der Lebensgeschichte des Antoine de Saint-Exupéry auskennen, sollten sich vielleicht schon an dieser Stelle überlegen, was sie mit jener feinen Zeit anfangen, die sie sonst mit der Lektüre dieses Textes und mit Pablo Agüeros „Saint-Exupéry“ verbracht hätten.

Das Biopic, das kein Biopic sein, aber „Die Geschichte vor dem kleinen Prinzen“ erzählen will, kümmert sich ausgesprochen wenig um Schwerkraft, ist eine Legende mit der Logik eines schwebenden Traums. Und es geht so frei mit der Biografie des legendären Fliegers und Schriftstellers um, dass Exupéristen im Angesicht von Agüeros siebtem Film ungefähr so die Tränen kommen wie Physiklehrern und Realisten.

Wer jetzt noch dabei ist, den nehmen wir mit nach Mendoza. Agüero, der französisch-argentinische Filmemacher, kommt daher. Liegt am Fuß der Anden. Als das Leben noch abenteuerlich war, flog die Aeropostale Briefe von Mendoza durch die Bergketten nach Chile. Mit Flugzeugen, deren Propeller stillstanden, wenn die Piloten versuchten, höher als die Gipfel zu fliegen.

Die Post, das war das Ethos des durch die Konkurrenz der viel zuverlässigeren Züge von der Pleite bedrohten Briefbringedienstes, war dabei wichtiger als das Leben der Flieger. Ende der Zwanziger war das.

Und Antoine de Saint-Exupéry, den sie alle Saint-Ex nennen, war, anders als bei Agüero, schon ein einigermaßen bekannter Schriftsteller auf dem Weg zur Fliegerlegende. Und Henri Guillaumet, wiederum anders als bei Agüero jünger als Saint-Ex, war sowieso Legende und der beste Kumpel von Saint-Ex bei der Aeropostale.

Die Geschichte beginnt am Freitag, dem 13., im Juni des Jahres 1930. Henri Guillaumet stürzt auf seiner 92. Andenüberquerung mit seiner Potez 25 im Schneetreiben ab. Im Nirgendwo am Diamantensee.

Mit beinahe nichts an Equipment schlägt sich Guillaumet auf rund 4000 Metern Höhe fünf Tage und vier Nächte durch Eis und Schnee. Eine Heldenleistung. „Ich kann Dir sagen“, sagt er Antoine de Saint-Exupéry, der ihn schließlich in einem Dorf am Ende der Welt aufsammelt, „was ich getan habe, kein Tier hätte es fertiggebracht!“

Saint-Ex ist der erste, der die Welt mit Guillaumets Tat vertraut macht (verfilmt wurde die Geschichte später und im Comic nacherzählt). In „Wind, Sand und Sterne“, seinem Roman, der auf Französisch „Terre des Hommes“ heißt, was mehr vom Ethos und der Philosophie des Fliegerautors verrät, als der ziemlich bescheuerte klassische deutsche Titel. Aber wir schweifen ab.

Die Geschichte eines reinen Tors

Agüero interessiert sich nun recht gar nicht für Guillaumets Fußmarsch, den Vincent Cassell, der Guillaumet ist bei Agüero, wahrscheinlich prima durchlitten hätte, aber nicht durchleiden darf. Weil Agüero die Geschichte vom Werden eines Helden aus der Etappe erzählt.

Die Geschichte eines reinen Tors und wie er die Welt sieht und erwachsen wird, den Frieden mit seiner Vergangenheit macht und seine Bestimmung findet. Saint-Ex – der so richtig gar keine Ähnlichkeit hatte mit Louis Garrel, der ihn spielt – geht unterstützt von Guillaumets Gattin (Diane Kruger) vom Stützpunkt der Aeropostale in Mendoza aus auf die Suche nach dem abgestürzten Kumpel. Sie reden, er fliegt, er schreibt, er zeichnet.

Nachtclub aus dem Nichts

Wundersame Dinge begeben sich. Immer wieder huschen Erinnerungen an den Tod des Bruders von Saint-Ex über die Leinwand, der ihn – die Geschichte stimmt wirklich, aber Saint-Ex war deutlich älter als im Film, als sein Bruder starb – maßgeblich geprägt hat.

Ein Nachtclub taucht auf aus dem Nichts. Züge ziehen durch die Nacht vorbei wie Sternschnuppen am Boden. Ein Mädchen, das weiß, wie der Wind sich bewegt, und ihm rät, den Flug der Kondor zu beobachten, wenn er über die Berge fliegen will, begegnet ihm. Ein Junge mit einem Schaf. Der Weg zu Guillaumet ist der in Sepiafarben getauchte Kreuzweg des großen Fliegers zum kleinen Prinzen.

So teuer wie zwei Minuten Tom Cruise

Und wie Saint-Exupérys weltenthobene Aphorismenschokoladenschachtel von 1943, dessen gigantischen Erfolg Saint-Ex gar nicht mehr erlebte, weil er ein Jahr später über dem Mittelmeer abgeschossen wurde (wie Guillaumet vier Jahre zuvor), gibt sich auch Agüeros Heiligenlegende ästhetisch bemerkenswert naiv.

Was durchaus nicht nur der Tatsache geschuldet ist, dass Agüeros Etat, mit dem er Propellermaschinen zumindest glaubhaft über die Anden fliegen und seinen Cast abenteuerliche Stunts machen lassen musste, wahrscheinlich so hoch war wie der von Tom Cruise für zwei Minuten seines Doppeldecker-Wahnsinns im jüngsten „Mission Impossible“-Abenteuer über Südafrika.

Wer Märchen mag und Loblieder auf die Männerfreundschaft und die Menschenliebe und fantastische Bilder und ein wirklich vortreffliches Schauspieltrio, ist in „Saint-Exupéry“ gut aufgehoben.

Er sollte vielleicht so ungefähr fünf Minuten vor Schluss das Kino verlassen. Da springt Agüero ans Ende des Lebens von Saint-Ex. Und macht „Saint-Exupéry“ endgültig zu einer Art cineastischem Invalidendom. Wird endgültig zur Hagiographie und zum Appell gegen den Faschismus. Da ist dann sehr viel Absicht auf der Leinwand. Und ganz viel Enttäuschung im Saal.

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