Es tut den Filmen von Wes Anderson immer gut, wenn sie eine Abenteuergeschichte erzählen. Die statischen Bildkompositionen des Regisseurs kontrastieren dann aufs Reizvollste mit einer bewegten Handlung. So war es bei „The Life Aquatic“ und „Grand Budapest Hotel“. Und so ist es jetzt auch bei „Der phönizische Meisterstreich“, einer Geschichte voller Attentate, mörderischer Bruderkämpfe und Schießereien.
Die minutiös konstruierten Einstellungen Andersons mit ihren Farben wie auf alten Fotos offenbaren sich in diesem Film so deutlich wie nie zuvor als das, was sie eigentlich sind: lebende Comicbilder im Stil der Ligne claire, jener klassischen, in der Mitte des 20. Jahrhunderts im franko-belgischen Raum dominierenden Machart, deren prominenteste Werke die Tim-und-Struppi-Geschichten von Hergé sind.
Geradezu tim-und-struppiesk sind auch die erfundenen Länder, in denen Anderson gern seine außerhalb der USA spielenden Filme ansiedelt: Die „Republik Zubrowka“ in „Grand Budapest Hotel“ entsprach „Bordurien und Syldavien“, die Hergé für seinen Band „König Ottokars Zepter“ erfunden hatte – osteuropäische Länder der Zwischenkriegszeit, die allen Klischees über die ehemals habsburgischen und zaristischen Teile Osteuropas mehr entsprechen als jeder real existierende Staat. Es war der alteuropäische Traum eines fantasiebegabten Amerikaners, der – Anderson hat es damals bekannt – Stefan Zweigs „Die Welt von gestern“ gelesen hatte. Ein Wilder Osten, wie er von einem jener hochbegabten Sonderlingskinder imaginiert wurde, die der Regisseur bevorzugt zu Helden seiner Filme macht.
Aus einem ausgedachten Südosteuropa voll komplexer, gewalttätiger Familienkonflikte, verschlagener Kriminalität und halbseidener Imperien, die mit griechischem Geschäftssinn erbaut wurden, stammt die Hauptfigur von Andersons neuem Film „Der phönizische Meisterstreich“: der Waffenhändler und globale Unternehmer Zsa Zsa Korda (Benicio del Toro). Jedes Mal, wenn er wieder ein Attentat nur knapp überlebt hat und bereits an der Schwelle des Todes steht, hat er religiöse Visionen voller langbärtiger Männer und Frauen, die wie orthodoxe Nonnen aussehen. Hübscher Witz: Gott selbst wird darin ausgerechnet von Bill Murray gespielt – einem besonders verbiesterten Atheisten.
Glauben (und das damit unauslöschlich verbundene Problem der Moral) sowie Familie sind die eigentlichen Hauptthemen von „Der phönizische Meisterstreich“. Vordergründig geht es um Ökonomie: Korda plant ein gigantisches Entwicklungsprojekt im Nahen Osten, gegen das der Bau des Suezkanals wie die Anlage eines Gartenteichs wirkt. Es soll ihm und seinen Investoren für die nächsten 150 Jahre unfassbar viel Geld bringen. Nach einer großen Gegenverschwörung globaler Bürokraten muss Korda seine Partner überzeugen, sich nicht aus dem Geschäft zurückzuziehen.
Seine Helferin dabei ist – zunächst ziemlich widerwillig, dann immer effizienter – seine einzige Tochter Liesl, eine Nonne, die er als Alleinerbin seines Vermögens auserkoren hat. Die Britin Mia Threapleton spielt sie mit einer atemberaubenden, fromm gezügelten Erotik. Weitere Familienmitglieder im Konfliktgeflecht des Films sind Zsa Zsas Cousine Hilda (Scarlett Johansson), die er irgendwann heiratet, und sein Bruder Nubar (Benedict Cumberbatch), der Liebhaber und Mörder von Zsa Zsas Frau – und nun sein gefährlichster Gegenspieler.
Wie „Grand Budapest Hotel“ ist auch „Der phönizische Meisterstreich“ ein großer „Tim-und-Struppi“-Comic für Erwachsene. Der Titel bezieht sich auf Phönizien, wieder einmal ein erfundenes Land. Diese Region existierte nur in der Antike – von dort übernahmen die Griechen das Alphabet und schauten sich etwas von der legendären Geschäftstüchtigkeit der Phönizier ab.
Die Abenteuer vor orientalischen Wüstenhintergründen im neuen Anderson-Film erinnern stellenweise frappierend an Hergés Geschichte „Die Zigarren des Pharao“ aus dem Jahr 1934. In ihrem Stil erträumen sich Anderson, sein Drehbuchautor Roman Coppola und sein neuer Kameramann Bruno Delbonnel eine levantinisch-arabische Fantasiegegend. Es gibt ein Feuergefecht mit berittenen Beduinenkriegern, die hinter einer Sanddüne auftauchen. Die Kopfbedeckung Fez, die man nur noch aus alten Filmen, Comics und längst als unkorrekt geltenden Zigarettenreklamen kennt, ist allgegenwärtig. Es ist reinster Orientalismus. Edward Said würde sich im Grab umdrehen – was allein schon für den Film spricht.
Blei- und handgranatenhaltig
Natürlich wird das nichts daran ändern, dass Wes Anderson der wohl umstrittenste Regisseur der Welt bleibt – verachtet von denen, die seine Ästhetik für intellektuell-langweiligen Edelkitsch halten, geliebt von einer Anhängerschaft, die offenbar auch in Cannes stark vertreten war, wo man „The Phoenician Scheme“ (so der Originaltitel) gerade gefeiert hat. An dieser Frontstellung wird der Film voraussichtlich nichts ändern, aber für jene dissidenten Aficionados, denen Andersons letzte Filme „The French Dispatch“ und „Asteroid City“ vielleicht ein wenig zu übertrieben andersonesk erschienen, ist dieser messer-, blei- und handgranatenhaltige Film ein überzeugendes Angebot, der Gemeinde weiterhin treu zu bleiben.
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