Ein anonymes Hotelzimmer im Marriott an der Croisette von Cannes. Herein weht der Meister höchstpersönlich. Er hat sich erkennbar als Wes Anderson verkleidet – im blau-weißen Seersucker-Anzug, darunter ein weißes Hemd. Selbst die langen Haare wirken frisch gebügelt. Er ist wach, aufmerksam und in jeder Sekunde vollendeter Gentleman.
WELT: Herr Anderson, schön, Sie zu sehen! Haben Sie es sich hier schon ein wenig bequem machen können?
Wes Anderson: Oh ja, es ist sehr gemütlich hier. Ich dachte kurz, das sei ein Spiegel – aber nein, das ist ein Schlafzimmer. Ganz hübsch. Nein, ich wohne nicht hier, falls Sie das fragen wollten. Wir sind außerhalb untergebracht, in der Nähe von Nizza, und bleiben nur ein paar Tage. Am Montag stelle ich noch einen restaurierten Film vor, nicht meinen eigenen. Danach reise ich wieder ab.
WELT: Dann mal los: Einen Film von Wes Anderson erkennt man sofort, an seiner Pastelligkeit und Puppenhaftigkeit. Für die Bilder war stets Bob Yeoman zuständig. Jetzt haben Sie zum ersten Mal mit einem neuen Kameramann gearbeitet, mit Bruno Delbonnel.
Anderson: Stimmt. Es war tatsächlich das erste Mal bei einem Langfilm, wobei ich mit Bruno vorher schon Werbespots gemacht hatte – zwei, um genau zu sein. Ich kenne ihn seit fast sechzehn Jahren. Es war also keine völlig neue Begegnung, sondern ein natürlicher Schritt. Und unsere Zusammenarbeit war sehr durchdacht: Wir hatten Zeit, über alles zu sprechen, und er brachte von Anfang an Bilder mit, die genau in die Richtung gingen, die ich im Kopf hatte.
WELT: Der Wes-Anderson-Look ist jedenfalls geblieben. War es ein Kraftakt, diese Bildsprache beizubehalten?
Anderson: Ich dachte jetzt, dass Sie etwas anderes sagen. Ich denke jedenfalls gar nicht so sehr über eine festgelegte Ästhetik nach. Es gibt natürlich gewisse Entscheidungen – Licht, Farbe, Komposition –, die sich aus der Geschichte ergeben. In diesem Fall wollte ich mehr Nahaufnahmen, längere Brennweiten. Ich hatte von Anfang an dieses Bild vor Augen: Benicio del Toro, als Geschäftsmann, ganz nah. Aber Bruno bringt auch etwas Eigenes mit: eine gewisse Düsternis vielleicht, eine andere Gewichtung im Licht. Das macht den Unterschied subtil, aber spürbar. Und gleichzeitig – ja, es bleibt erkennbar mein Film. Diese Dinge verankern sich wohl irgendwann von selbst.
WELT: Könnte man sagen, dass sich eine Art natürliche Anderson-Ästhetik einstellt, sobald Sie zu arbeiten beginnen?
Anderson: Vielleicht. Ich denke, sobald ich anfange, mich mit einem Stoff zu beschäftigen, entsteht eine bestimmte Welt – ob ich will oder nicht. Die Geschichte führt mich. Auch bei diesem Film: Es gibt eine Prügelei zwischen Benicio und Benedict Cumberbatch – die wirkt chaotisch, ist aber haargenau durchchoreografiert. Wir haben sie wie einen Comic vorgezeichnet. Im Moment der Umsetzung fühlt sich für mich alles neu an, aber ich weiß natürlich, dass es wiederkehrende Elemente gibt, die die Filme verbinden. Vielleicht liegt das einfach an mir selbst.
WELT: „The Phoenician Scheme“ wirkt geradliniger als Ihre letzten Werke – „Asteroid City“ oder „The French Dispatch“ waren sehr verschachtelt. War das eine bewusste Entscheidung?
Anderson: Nicht im Sinne von: Ich will jetzt etwas Lineareres machen. Aber ja – das Konzept war von Anfang an sehr zielgerichtet. Es geht um eine zentrale Figur, einen Mann, der unaufhaltsam seinem Ziel entgegengeht. Später wird daraus ein Trio, aber der Impuls bleibt: vorwärts. Es gibt ganz am Anfang eine Einstellung, in der Benicio nach einem Flugzeugabsturz blutüberströmt in einem Maisfeld aufsteht und einfach losläuft. Die Kamera fährt rückwärts mit ihm mit. Für mich ist das der Film: dieser Mann, der alles verloren hat, aber nicht aufhört zu gehen.
WELT: Diese Kompromisslosigkeit hat fast etwas Biblisches.
Anderson: Vielleicht. Ich denke, das trifft es sogar ganz gut. Der Film enthält tatsächlich, sagen wir, eine gewisse metaphysische Dimension. Ich habe viel über die Erfahrung nachgedacht, ein winziger Mensch zu sein, auf einem kleinen Planeten, inmitten einer unvorstellbaren Leere. Und was das mit einem macht.
WELT: Auch thematisch verschiebt sich etwas. Viele Ihrer früheren Filme kreisen um Verlust, Trauer, Zugehörigkeit. Hier scheint es eher um Wiederannäherung zu gehen – konkret zwischen Vater und Tochter.
Anderson: Das stimmt. Natürlich gibt es auch hier Verlust – die Tochter hat ihre Mutter verloren, sie wurde aus der Familie gedrängt, trägt Wut in sich, gibt ihrem Vater die Schuld. Aber bei ihm, bei Benicios Figur, bin ich mir nicht sicher, ob er überhaupt je getrauert hat. Was er verloren hat, ist seine Tochter. Und vielleicht – ganz vielleicht – ist seine ganze Mission, all diese Nahtod-Erfahrungen, die aus all den missglückenden Attentaten folgen, nicht dem Geschäft geschuldet, sondern diesem unausgesprochenen Wunsch, wieder mit ihr in Kontakt zu treten. Vielleicht ist das seine eigentliche Agenda – ohne dass er es weiß.
WELT: Eine Art phönizisches Täuschungsmanöver gegen den eigenen Schmerz?
Anderson: Ja, das passt gut. Alles ist bei ihm durchgeplant, sortiert, in Schuhkartons verstaut – aber natürlich hat er keine Kontrolle. Er glaubt, er sei der Architekt seines Lebens, aber das Leben spielt nicht mit. Und genau das interessiert mich: diese Illusion von Kontrolle. Wie man versucht, Chaos mit Ordnung zu übertünchen.
WELT: Auch die Tochter scheint ihm darin nicht unähnlich – aber konsequenter.
Anderson: Absolut. Sie droht damit, einfach zu gehen. Das verleiht ihr Macht. Ich glaube, wenn die beiden wirklich gemeinsam voranschreiten – dann sollte man ihnen besser nicht im Weg stehen.
WELT: Benicio del Toro wirkt zunächst wie ein Bruch in Ihrem Ensemble. Er ist physisch, maskulin, eher finster als ironisch. Passt das zu Ihrem Kosmos?
Anderson: Vielleicht wirkt es auf den ersten Blick so. Aber ich habe ja auch mit Bruce Willis, Gene Hackman, Ralph Fiennes oder Bill Murray gearbeitet – lauter starke Figuren, nur eben mit einem gewissen Humor. Benicio bringt etwas anderes mit. Seine Figur ist nicht unsicher. Sie ist voller Fehler, aber nicht zögerlich. Und genau das macht sie faszinierend.
WELT: Drehen Sie eigentlich gerne in Europa?
Anderson: Sehr. Babelsberg war ideal. Ich plane meine Dreharbeiten inzwischen sehr eigenständig – ich mache den ersten Drehplan selbst, nach Kriterien, die sich nicht an klassischen Produktionsabläufen orientieren, sondern an Effizienz und Stimmung. Ich will, dass ein Drehtag gut aussieht – auch auf dem Papier. Und Babelsberg hatte genau die Räume, die ich brauchte. Eine riesige Tunnelhalle, ursprünglich für den Zugbau gedacht, wurde zur Kulisse. Wir haben sie nicht nur als Studio genutzt, sondern auch architektonisch integriert.
WELT: Auch die Kunstwerke, die im Film zu sehen sind, sind echt – keine Repliken. Warum?
Anderson: Weil man es sieht. Und weil es die Schauspieler spüren. Jasper Sharp, ein Freund aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien, hat uns geholfen, echte Werke zu finden – aus Deutschland, der Schweiz, Frankreich. Ein Renoir hing am Set, eine gotische Holzschnitzerei. Es war aufwendig, teuer, voller Auflagen. Aber es hat sich gelohnt. Benicio – der selbst sehr kunstinteressiert ist – war tief beeindruckt. Besonders von einer Holzschnitzerei aus dem 15. Jahrhundert, aus einer Kirche. Ich auch. Selbst wenn man sie im Film nur für einen Augenblick sieht, sehen sie immer richtig aus. Ihre Aura ist real.
WELT: Gibt es für Sie Themen, die sich über mehrere Filme ziehen?
Anderson: Ja, unbedingt. Ich habe das Gefühl, dass meine Filme wie in Zyklen denken. Ein Thema beginnt, bleibt, verändert sich, kehrt zurück. „Asteroid City“ und „The Phoenician Scheme“ teilen einiges, auch wenn sie formal unterschiedlich sind. Es geht oft um Verlust, um Erinnerung, um die Frage, was Familie eigentlich bedeutet – und um die Illusion, dass man alles ordnen kann, wenn man nur lange genug Listen schreibt.
WELT: Warum glauben Sie, kehren Sie immer wieder zu diesen Themen zurück?
Anderson: Nun, zu einem gewissen Grad ist mein Gedanke: Was gibt es sonst noch? Aber das sagt wahrscheinlich etwas aus, das ist wohl nur eine Umformulierung der Frage.
WELT: Und wie geht es weiter?
Anderson: Das nächste Projekt in meinem Kopf ist bewegter, wilder. Es hat eine andere Dynamik. Weniger strukturierte Begegnungen, mehr ständiger Übergang. Aber auch das weiß ich noch nicht genau. Ich folge den Bildern, die nicht mehr verschwinden.
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