Kunst ist eine grausame Angelegenheit, deren Rausch bitter bezahlt werden muss, sagte einmal Max Beckmann, und weil Beckmann mit diesem Rausch berühmt wurde, zahlte letzthin ein Sammler für sein Selbstbild in Gelb-Rosa den Rekordpreis von über 20 Millionen Euro. Bitter ist Kunst dagegen für all jene Sammler, die 1914 beim Kunstverein Hamburg junge Kunst einkauften und statt Beckmann zu seinem Kollegen Walter Geffcken griffen. Der war zwar auch ein beliebter Maler des frühen 20. Jahrhunderts, blieb aber nach 1933 in Deutschland, passte sich an und malte später Porträts und Rokoko-Sujets. Ich weiß aus eigener Sammeltätigkeit, dass Geffckens Werke heute für den Preis einer hochwertigen Rolle Tapete zu bekommen sind: Die Kunstgeschichte hat ihn als Randfigur aussortiert und lacht über ihn, weil er von Thomas Mann in Doktor Faustus als „Glattmaler Nottebohm“ schlecht wegkommt. Beckmann dagegen, der 1937 vor den Nationalsozialisten ins Exil auswich, wurde für bedeutend erklärt. So geht das in der Kunst. Oh, bitte, ich will das nicht bestreiten, ich will nur erzählen, dass ich gerade in Florenz war. Genauer, am Ort eines weltweiten Kunstärgernisses.

Es geht um das, was man schemenhaft im roten Kreis erkennen kann. Wir befinden uns hier auf der Piazza della Signoria im Herzen der toskanischen Metropole, vor dem Palazzo Vecchio mit Kopien des David von Michelangelo und des Perseus von Bellini, zwei Hauptwerken der Renaissance. Links von ihnen wendet sich diese knallgoldene Statue von den Hauptattraktionen ab und schaut eher gelangweilt auf ihr Mobiltelefon. „Time Unfolding“ heißt die rund vier Meter hohe und nicht wirklich dezente Skulptur einer jungen, schwarzen Frau, und stammt aus der Hand des britischen Künstlers Thomas J. Price. Sie ist Teil einer größeren Sonderausstellung, die sich auf Veranlassung des Museo Novecento für Gegenwartskunst im Palazzo Vecchio befindet und den Veranstaltern so wichtig ist, dass sie das auch noch extra auf die Eintrittskarten drucken. Sollte sich die Größe einer Kulturnation in der Natur ihrer Skandale ausdrücken, haben wir Deutschen ehrlich gesagt schlechte Karten: Durch unsere angetanzten Windelhühner im Dom zu Paderborn können wir kaum bei der globalen Kritik am Spektakel in Florenz mithalten.

Dabei gibt es zuerst einmal grundsätzlich Ähnlichkeiten: Sowohl die goldene Statue als auch die Hühnchenwerfer aus dem kreuzkatholischen Paderborn verdanken ihren exponierten Platz dem, was man als öffentlich geförderte Staatskunst bezeichnen könnte. Ohne beste Verbindungen zur – sozialdemokratischen – Politik und Bürgermeisterin in Florenz stellt dort niemand eine Statue auf, und das Ensemble Bodytalk, das unseren geliebten Bundespräsidenten mit dieser Darbietung erfreuen durfte, betreibt seine Tanzperformance mit Hilfe umfangreicher Förderung aus Bund, Land und Gemeinden. Auch ich komme aus einem katholischen Kaff, und wir alle wissen, dass Kunst da so etwas wie der Witz mit der schwäbischen Atombombe ist, über die der Ministerpräsident sagt: „Etz hamma se bezahlt, etz wollma se auch werfe.“ Traditionell werden Grüne mit solchen Kulturposten unter fragwürdigen Hinterzimmerdisputen abgefüttert, wo sie als kleine, geltungsfreudige Claudia Roths der Vorstädte die Erbhöfe der sog. Zivilgesellschaft in kulturellen Freiräumen immer weiter bezahlen. Hier eine Dichtkunstreihe, dort eine Verschnürung einer Burg als Art Space, die man nur mit Voranmeldung betreten kann:

Dann muss der Minister oder der Bürgermeister eine Veranstaltung ausrichten. Die soll bitte nicht konventionell oder gar zu traditionell sein, und die Verpflichtung vor einer Zukunft ausdrücken, die aufmerksam, bunt, diskursiv, interventionistisch, aufgeschlossen, queer, global, offen für die Fragen der Verantwortung ... Also jedenfalls so ist, dass die Gymnasiallehrerin Wiebke Woidke-Kachelbrunner, die die FAZ abonniert hat und meint, sowas kann sie auch, in der Heimatzeitung schreibt, der Veranstaltung sei bei aller Tradition die Verpflichtung für die Moderne bewusst gewesen. Und wer könnte das besser transportieren als die Gruppe Bluzkoz, geleitet von der exzellenten Experimentaltänzerin Sophie Dikosava Ngebele-Niederbauer, die letztes Jahr den 4. Preis bei der Tanztriennale in Manchester erhalten hat. Hinter drei anderen Problemponyträgerinnen (w/m/d).

Glauben Sie mir, ich kenne diese Leute leider viel zu gut, und es gibt schon Gründe, warum ich kategorisch keine Veranstaltungen mehr besuche, zu denen man als Journalist Einladungen bekommt. Solche MännermitzulangenHosenAufläufe sind reich an Momenten, da sich neun von zehn Besuchern lieber auf dem Zahnarztstuhl als ohne Fluchtmöglichkeit vor dieser Kulturintervention wiederfinden würden. So viel liest man auch in der Provinz über den Bohei, der in Berlin mit neuen Inszenierungen angerichtet wird: Da will man nicht zurückbleiben. Wenn schon die letzte unschuldige Mozart-Oper in München mit aktuellen Bezügen tauglich für Mittelmeertod oder wenigstens Patriarchatsanklage gemacht werden muss, darf auch eine Kleinstadt auf keinen Fall in Traditionen verharren. Und man hat diese Leute ja eh schon bezahlt und die Partnerstädte damit malträtiert: Die Nackthuhnparade von Paderborn hatte nur das Pech, in einer Kirche stattzufinden, was dann doch manche Katholiken störte. Die Aufzeichnung verbreitete sich obendrein im Internet, wonach sich das schockierte Bistum distanzierte. Die frühere Arbeiterpartei SPD zog ein ähnliches Spektakel dagegen voll durch, ohne dass es ihr bei den Wahlen etwas genutzt hätte. Immerhin waren es keine waschechten Terroristen wie gerade bei den Wiener Festwochen.

Nun weiß der Kunstsinnige, dass die Freakshow von gestern die hohe Kunst von morgen sein kann: Nicht nur Max Beckmanns brutale Vergewaltigungsszene in „Die Nacht“ wird heute als Inkunabel der Moderne (← man merkt die FAZ-Schule bei mir) betrachtet. Gleich nebenan von der Piazza breiten sich die Boboligärten aus, und dort thront die Statue des Hofzwergs Nano Morgante auf einer wasserspeienden Schildkröte. Die Skulptur, die sich damals einen obszönen Scherz mit einem ... wie sagt man das heute … nicht normlangen Höfling machte, gilt heute als Meisterwerk der manieristischen Plastik und Begründer eines ganzen Genres. Dass Nano zur Belustigung des Medici-Hofes gegen Affen kämpfen musste, wird wie so viel anderes vom Glanz und der kunstgeschichtlichen Bedeutung jener Epoche überstrahlt. Tatsächlich sind wir – und das bis hinauf zu denen, die anderen erklären, wann sie gefälligst Ah und Oh sagen und applaudieren müssen – im Gang der sogenannten Wissenschaft durchaus bereit, das Hässliche, Obszöne und unseren sogenannten Werten Widersprechende zu akzeptieren, wenn es uns nur gefällt. Und ich muss gestehen: Als meine Eltern mich mit 12 Jahren zum ersten Mal nach Florenz brachten, war ich von Nano auch schon begeistert.

Nano ist, splitternackt gemalt von Bronzino und 1560 gemeißelt von Valerio Cioli, eine radikale Abkehr oder, wenn man so will, eine Intervention gegen das, was Michelangelo zwei Generationen davor in der Hochrenaissance mit dem David an humanistischen Idealen auszudrücken beliebte. Der David ist der Kämpfer gegen eine Übermacht und explizit ein Monument der Republik Florenz, die damals die Medici vertrieben hatte. Der Nano war dagegen ein Untertan der Medici, nachdem aus den Bankiers und Bürgern die Großherzöge der Toskana wurden: Kunstgeschichte kann das einordnen und erklären. Leider ist es momentan aber eher so, dass der Bürger sich im Rahmen der staatlich geförderten Kulturpolitik kaum als David sehen kann, der gegen den Goliath der Steuermittelverteilung gewinnt. Vielmehr wird er mit den Hühnern im Dom, mit der goldenen Statue auf der Piazza oder mit einer fülligen Frau auf dem Times Square konfrontiert, die auch Afroamerikanerinnen nicht wirklich gefällt. Wir sind mehr so etwas wie ein Nano, wenn man uns ohne Rücksicht woke Interventionskunst vorsetzt, die eine Absage an Tradition, Identität und Selbstverständnis beinhaltet. Und eine staatlich organisierte Regierungskunstszene freut sich, wenn auf uns linkisch erscheinenden Untertanenzwerge die tolldreisten Affen des Steuergeldbetriebs gehetzt werden. Paderborn war nur insofern die Ausnahme, als man diesmal speziell die Machtelite mit den Hühnern beglückte. Und diese Machtelite ein paar quälende Minuten so still schweigen musste – imaginieren Sie hämisches Lachen an dieser Stelle –, wie man das im Museum eben tut.

Im Palazzo Vecchio steht noch eine Monumentalstatue mit dem Titel „A Place Beyond“ von Thomas J. Price. Diesmal in dunkler Bronze, wieder mit dem Mobiltelefon in der Hand, wieder in Straßenkleidung. Und diesmal – vermutlich zum Schutz des historischen Bodens – auf einer Art Platte, die man auch als Podest begreifen kann. Als wokem Künstler ist es Price wichtig, schwarze Personen darzustellen. Er will die weißen Monumente weißer Menschen zu hinterfragen. Schwarz sein genügt, es muss keine besondere Tat vorliegen, und keine Verbindung mit dem, was man gemeinhin für Kunst halten möchte, um ein Denkmal zu erhalten. 17,50 Euro bezahlt man Eintritt, und es lohnt sich wegen Vasari und Bronzino und all den anderen, die hier wirkten. Wer das bezahlt, weiß sich auch zu benehmen, wenn irgendwo neue Büsten und Statuen auftauchen und beklagt sich nicht, dass sie etwa den historischen Raumeindruck beeinträchtigen. Es gibt eine sorgsam eingeübte Kulturertragungsstarre, mit der man den Eindruck vermeidet, man würde die Intention der dicken Frau in Bronze nicht verstehen. Ein Stockwerk weiter unten würde man ein letztes Abendmahl finden, das mit einem schwarzen, auftragenden Sklaven tatsächlich die Frage aufwerfen könnte, ob die Repräsentation der Herkunft in der Kunst heute noch angemessen ist – sofern man nicht auf dem inzwischen etwas unmodernen, ex-linken Standpunkt verharrt, dass Hautfarben, woke Schädelvermessung, neulinke Rassenkunde und damit einhergehender Antisemitismus des Postkolonialismus im XXI. Jahrhundert keinen Platz mehr haben sollten.

Abgesehen davon kann man heute für den Preis eines schnell gemalten Jean-Michel Basquiat eine fast wertlos gewordene weiße Ahnengalerie mit Hochadel bis zur Renaissance kaufen, zwei passende Paläste weißer Freiherrn obendrein (oder acht im Osten, wenn man nichts dagegen hat, dass die benötigte thüringische Rahmenstaubabwischerin einen „Alice für Deutschland“-Sticker auf dem Heck ihres Skodas hat) und verfügt immer noch über Geld für einen Mittelklasse-Beckmann: Thomas J. Price ist beileibe nicht der erste schwarze Künstler, der mit dem Bruch von Regeln und Traditionen die Szene für sich begeistert. Mit dem woken Konflikt rund um den Sturz von Monumenten in der Zeit, als auch Plünderungen und Brandstiftungen anlässlich des Todes von George Floyd als schicklich galten, hat er auch ein Thema gefunden, an dem sich schnell Debatten entzünden. Die Richtigen finden es gut, die Falschen empören sich und geben den Richtigen damit alle Gründe, sich bestätigt zu fühlen: So kommt die goldene, gelangweilte Frau mit dem Rücken zu Michelangelo auf die Piazza della Signoria.

Ich hatte an diesem schönen Sommertag nichts mehr zu tun und konnte mir das länger anschauen. Ich bitte um Nachsicht, wenn ich hier nur die Bilder zeige, die einem kunstsinnigen Publikum zumutbar sind. Aber es gab wegen der Statue schon Ärger, weil zwei Influencer Bananen mit Gaffatape an sie klebten – eine Anspielung auf das ebenfalls nicht allgemein akzeptierte Kunstwerk „Comedian“ von Maurizio Cattelan, das ein Bitcoinmillionär für 6,2 Millionen Dollar gekauft und anschließend gegessen hatte. Diese Aktion ist aber noch hochgeistig im Gegensatz zu dem, was sich um die goldene Dame abspielt, die Konservative auf der ganzen Welt so ausgiebig verachten: Sie wird nicht im Mindesten ernst genommen. Inmitten der Ewigkeitswerke der Piazza ist sie für Touristen die extrem auffällige und unpassende Freakshow, die man jederzeit distanzlos befingern und befummeln kann.

Wenn Sie glauben, nur Männer würden so etwas tun: Ich darf berichten, dass zwischen den goldenen Beinen auch Frauen ohne jede Zurückhaltung Dinge andeuten, die man früher dezent beschwiegen hätte, und die nun im Rahmen unseres Kulturwandels leider Teil des deutschen Zwangsgebührensystems geworden sind. Es ließe sich trefflich darüber diskutieren, was der größere Affront gegen die kulturelle Identität des Westens ist: das goldene Monument des Desinteresses mit dem Rücken zu Michelangelo, oder der Umgang der Massen damit. Ich habe mir das eine Stunde angeschaut, und wenn die Massen etwas nicht als Kunst verstehen, behandeln sie es nicht als Kunst. Sie haben keinen Respekt und keine Achtung und sagen ihren Freundinnen, dass sie die Grimassen zwischen den Beinen der Frau ablichten und bei sozialen Netzwerken veröffentlichen sollen. Es geht den Massen – im Gegensatz zu den Hühnermarschzuschauern in Paderborn – dabei gut. Sie haben Spaß bei der freien Eroberung von etwas, das einmal als Kunst gedacht war, aber nun eher so abschätzig behandelt wird, wie eine adlige Ahnengalerie in den Wirren der Französischen Revolution.

Reaktionäre, Überfremdungsbefürchter oder Verstockte, deren Kulturverständnis Max Beckmann gerade noch so umschließt, dass sie ihn pseudogelehrt zitieren dürfen, können beruhigt sein: Die Massen sehen in den goldenen Statuen schwarzer Frauen der Gegenwart nicht die Bedrohung ihrer kulturellen Werte oder die Zerstörung eines gewachsenen Stadtbilds oder gar eine neue Kunst, die nun endlich den alten Plunder in den Schatten stellt. Sie sehen beim David von Michelangelo auch gern den wohlgeformten Hintern und tun das, was sie bei der Renaissancestatue nicht tun dürfen, gegenüber an den Beinen in knallengen Hosen der Gegenwartskunst. Einerseits ist das ganz schrecklich anzuschauen, weil es sicher nicht jener Kulturkampf ist, dem echte Reaktionäre in ihrem Irrglauben an eine gute, alte Zeit erwarten, als alle noch Rilke auswendig konnten. Oskar Spengler könnte sich andererseits bestätigt fühlen, weil er genau das im Untergang des Abendlandes erkannte: „Die Europäer werden in den nächsten fünfzig Jahren eine tiefe Verwandlung ihres Charakters durchmachen, und diese Verwandlung wird das Schicksal ihrer Kultur bestimmen.“ Nicht mehr das Feuilleton bildet die Meinung, sondern die Klickrate bei Bildern im Internet, die ständig die Frage stellen: Was kann man denn noch mit den Beinen dieser Statue treiben?

Die wenigsten werden wissen, wer Thomas J. Price ist, wenn sie sich an der Statue vergreifen, und die wenigsten wollen wissen, was die Nippelparade mit Röcken in der Kirche aussagen sollte, wenn sie sich darüber empören. Es ist nicht der ernste Kulturkampf um Dominanz, den sich konservative Eliten wünschen, sondern das Scheitern der Kommunikation einer linken Elite, die nicht damit rechnet, dass ihr jemand ungeniert zwischen die Beine greifen und hühnerertragende Politiker höhnisch auslachen könnte.

Natürlich hat diese Szene im Großen immer noch die Vorwörter der Ausstellungskataloge, die nach einem Jahr für 1/3 des Preises verhökert werden, und in der Provinzzeitung das Lob der Gelegenheitsautorin, die die Lieblinge der grünen Kulturreferentin zwischen Regionalfußball und Messerstecherei am Bahnhof zur Sensationsveranstaltung hochschreibt. Also, sofern nicht noch eine Anzeige von Aldi reinkommt. Aber all diese Selbstermächtigung über Kultur braucht Kreise, die diese Bewunderung auch tragen.

Und das wird etwas schwierig, wenn die übergroße Mehrheit nur eine peinliche Freakshow auslacht.

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