«Aufpassen bei den Autos», ruft Andrina ihren Buben zu. Der 7-Jährige fährt mit dem Trottinett voraus, der 5-Jährige versucht seinen Bruder mit dem Velo einzuholen. «Ich finde es anstrengend. Vor allem, weil sie nicht gleich schnell unterwegs sind», sagt die 36-jährige Mutter. Auf ihren Wunsch hin nennen wir weder ihren Nachnamen noch die Namen der Kinder.

An diesem Dienstagnachmittag ist wenig los auf den Nebenstrassen von Rapperswil-Jona. Doch die Angst um ihre Buben ist Andrinas ständiger Begleiter. «Die Autos fahren hier manchmal schneller als sie sollten.»

Legende: Die Angst fährt mit: Mutter Andrina hat ihre Buben im Blick und doch ein mulmiges Gefühl. SRF/Matthias von Wartburg

Zwischenhalt auf dem Spielplatz. Der 5-Jährige klettert sofort auf den Spielturm. «Langsam!», ruft ihm Andrina von der Sitzbank aus zu. Sie seien schon öfters auf diesem Spielplatz gewesen, und doch habe sie ein mulmiges Gefühl, sagt Andrina.

Überbehütung sei ein Thema bei ihr und ihrem Mann. Das falle zum Beispiel auf, wenn sie mit anderen Familien etwas unternehmen. «Während andere Eltern entspannt in ein Gespräch unter Erwachsenen vertieft sind, schauen wir oft, wo unsere Kinder sind, rufen ihnen zu.»

Der Grundauftrag von Eltern ist, ihre Kinder zu behüten.
Autor: Claudia Roebers Entwicklungspsychologin

Sie habe manchmal auch Mühe, ihre Buben loszulassen. «Zum Beispiel, wenn der Ältere an einen Kindergeburtstag in ein grosses Spielparadies eingeladen wird, in dem er noch nie war.»

Ab wann ist es Überbehütung?

Claudia Roebers, Leiterin der Abteilung Entwicklungspsychologie der Universität Bern, sagt: «In dieser ganzen Diskussion um Überbehüten muss man erst mal sagen: Der Grundauftrag von Eltern ist, ihre Kinder zu behüten.»

Legende: Überbehütung beginne oft schon im Säuglingsalter, sagt Entwicklungspsychologin Claudia Roebers. «Sind Eltern einmal in dieser überbehütenden Rolle, ist es schwierig, da wieder herauszukommen.» Adrian Moser

Aber ab wann ist es zu viel? Das sei eine Gratwanderung, und je nach Familie sehr individuell, so Roebers. Es komme stark auf das Temperament und die Ängstlichkeit des Kindes und der Eltern an. Grundsätzlich könne man aber sagen: Wenn Kinder in ihrem Drang nach Selbständigkeit gebremst werden, dann werde es kritisch. «Wenn Eltern dann immer sagen: ‹Nein, das kannst du noch nicht. Nein, das ist zu gefährlich.› Dann ist es Überbehüten.»

Manche Eltern sehen ihr Kind als Projekt, bei dem man alles perfekt machen muss.
Autor: Joëlle Gut Kinder- und Jugendpsychotherapeutin

Gründe für eine Überbehütung gebe es viele, sagt Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Joëlle Gut. Sie hat immer wieder überbehütende Eltern in Therapie.

Legende: Joëlle Gut arbeitet seit 25 Jahren in ihrer eigenen Praxis als Kinder- und Jugendpsychotherapeutin. Zu ihr kommen aber nicht nur Kinder, sondern oft auch Eltern, die den Umgang mit ihren Kindern verändern wollen. Joëlle Gut

Eine Ursache von Überbehütung könne ein zu hohes Kontrollbedürfnis sein: «Wenn Eltern praktisch jeden Schritt ihres Kindes beobachten, überall Gefahr abwenden wollen, kann das schnell zu viel sein.»

Weiter beobachtet Gut eine Überidentifikation mit der Elternrolle: «Manche Eltern sehen ihr Kind quasi als Projekt, bei dem man alles perfekt machen muss.» Solche Eltern würden sich dann zu viele Gedanken machen und zu wenig intuitiv an die Elternschaft herangehen.

Die eigene Angst als Ursache

Nicht selten sei aber auch eine Angststörung bei Eltern der Auslöser für Überbehütung. «Wenn das eigene Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Handeln durch eine Angststörung geprägt ist, erachtet man das Überbehüten als legitim», so Psychotherapeutin Joëlle Gut.

Zurück zum Spielplatz, wo Andrinas Buben herumtollen. Sie erzählt, dass auch sie mit einer Angststörung zu kämpfen hatte. Als Andrina 22 Jahre alt war, starben ihre Grosseltern, welche sie bis am Schluss eng begleitet hatte. «Im selben Jahr wurde ich im Zug überfallen. Es war der 27. Dezember, ich war alleine im Waggon.» Andrina hatte danach Panikattacken.

Dank Therapie bekam sie die Panikattacken in den Griff. Doch die Angst ist geblieben. Ein paar Jahre später bei der Familienplanung wurde die Angst wieder stärker. Andrina wurde nicht schwanger und verlor danach mehrere Kinder. «Ich hatte Angst, nie Mutter zu werden.»

Als Andrina endlich schwanger wurde und ihr erstes Kind bekamt, wurde ihr Sohn wenige Stunden nach der Geburt auf die Neonatologie verlegt. Er hatte Mühe mit der Atmung. «Das war hart, du willst, dass es deinem Kind gut geht, und plötzlich hat es zu wenig Sauerstoff.» Die genaue Ursache wurde nicht gefunden. Andrinas Angst um ihr Kind wurde grösser. «Wahrscheinlich hat es damals angefangen mit der Überbehütung.»

Überbehütender Vater

Andrina und ihre Buben machen sich auf dem Heinweg. Daheim gehen die Jungs raus und spielen mit anderen Kindern in der Siedlung. Andrina setzt sich mit ihrem Mann Gino an den Esstisch. Der 38-Jährige arbeitet gerade im Homeoffice und kann eine Pause machen. Andrina und Gino sind seit 20 Jahren ein Paar.

Überbehütung wird stereotypisch häufig den Müttern zugeschrieben. Aber auch Gino sagt von sich, dass er seine Jungs manchmal überbehüte. Bei ihm habe das, neben dem holprigen Start ins Leben des ersten Sohnes, auch viel mit seiner eigenen Kindheit zu tun. «Wenn es zum Beispiel schneite, wollte mich meine Mutter nicht ins Fussballtraining gehen lassen, weil mir auf dem Weg in die Turnhalle etwas zustossen könnte.»

Diese übervorsichtige Art seiner Eltern habe auch mit seiner Herkunft zu tun. Im kleinen Dorf in Italien, in dem Gino geboren wurde, gab es keine Schule. Die Kinder mussten mit dem Schulbus ein paar Dörfer weite zur Schule gebracht werden.

«Für meine Verwandten, welche in Italien leben, ist es unverständlich, dass wir unsere Kinder auch bei Regen oder Schnee zu Fuss und alleine auf den Schulweg schicken», so Gino.

Das sind die Folgen

«Eine effektive Überbehütung führt beim Kind zu schlechterer Selbstwirksamkeit, schlechterem Selbstwert, schlechteren Problemlösekompetenzen», fasst die Entwicklungspsychologin Claudia Roebers zusammen. Dass die Kinder früher oder später in herausfordernde Situationen kommen, bei denen die Eltern nicht dabei sind, ist unumgänglich. «Überbehütete Kinder sind dann schnell überfordert, weil ihnen die Sicherheit fehlt, dass sie das schon irgendwie hinkriegen», so Roebers.

Aus überbehüteten Kindern werden also unsichere junge Erwachsene. «Der Hauptgrund, warum junge Menschen mit dem Studium an der Universität Bern und an anderen Universitäten weltweit aufhören, ist Prüfungsangst», sagt Entwicklungspsychologin Claudia Roebers. Das könne auch mit Überbehütung zu tun haben. «Wenn ich als Kind nicht gelernt habe, Herausforderungen anzunehmen und es einfach mal zu probieren, kann es später schwierig werden.»

Auch Andrina und Gino merken, dass sich die Überbehütung auf ihre Buben auswirkt. «Sie sind manchmal sehr unselbständig. Wir nehmen ihnen vieles ab, anstatt sie zu ermutigen, es selbst zu machen», sagt Andrina. Ausserdem könne es sein, dass ihre Buben nicht so selbstsicher sind wie andere in ihrem Alter. «Wir merken immer mehr, dass wir eigentlich verhindern, dass sie selbstsicherer werden, indem wir sie zu fest behüten.»

Auf die Kinder hören

Die Entwicklungspsychologin Claudia Roebers plädiert dafür, mehr auf die Kinder zu hören. Gehe es darum, herauszufinden, was man seinem Kind schon zutrauen kann, sei die Einschätzung der Kinder selbst zentral. «Das können Kinder sehr gut steuern, aber man muss ihnen die Möglichkeit dazu geben.»

Das könne zum Beispiel heissen, das Kind konkret zu fragen, welchen Teil des Weges in die Musikschule es alleine gehen will. «Damit signalisiere ich dem Kind, ich bin da, wenn du es brauchst, aber ich traue dir auch zu, das selber zu machen», sagt Roebers.

Man tut seinen Kindern keinen Gefallen, wenn man ihnen alles abnimmt, ihnen kaum etwas zutraut. Eltern deshalb zu stigmatisieren, sie als Helikopter-Eltern abzustempeln ist jedoch auch nicht hilfreich. Wie bei Andrina und Gino steckt hinter dem Überbehüten auch immer eine Geschichte.

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