In Ourslers Videoschau ist man jederzeit umfangen von Informationen, die von allen Seiten auf einen einprasseln: von flimmernden Flachbildfernsehern, grossen Leinwänden und raumgreifenden Skulpturen. Auf fast allen sind Verschwörungstheorien oder rätselhafte Szenerien zu sehen.
Man wird in die Realität von Menschen hineinversetzt, die sich in den sozialen Medien zu orientieren versuchen – und sich in der Desinformationsflut verlieren.
Von Chemtrails bis 5G
Die Videos zeigen Flugzeuge, die angeblich Chemtrails, also chemische Substanzen, versprühen; Menschen, die sich angeblich in Reptiloiden verwandeln oder 5G-Masten, die angeblich gesundheitsschädigende Strahlen senden.

Kurator Lynn Kost sagt, es handele sich um ein typisch überforderndes Potpourri von Videokünstler Tony Oursler. Seine experimentellen Videoprojektionen auf Skulpturen waren schon an der Documenta, im Whitney Museum of American Art und im Centre Pompidou zu sehen.
Nun hat er in Winterthur eine Ausstellung über Verschwörungserzählungen konzipiert.

Das Herzstück der Ausstellung ist eine riesige, leuchtende Menschenfigur, die auf einem Sockel liegt. Sie ist eine Anlehnung an den sogenannten «Cardiff Giant», einen spektakulären Schwindel des 19. Jahrhunderts.
Frühe Verschwörung: Der «Cardiff Giant»
Im Jahr 1868 vergräbt der Atheist George Hull nach einem Streit mit einem Pfarrer heimlich eine über dreieinhalb Meter grosse, menschenähnliche Steinfigur auf einem Feld in Cardiff im Bundesstaat New York.

Ein Jahr später lässt er just an jener Stelle graben und entdeckt durch einen vermeintlichen Zufall den angeblich biblischen Riesen, von dessen Existenz der Pfarrer ihn zu überzeugen versucht hatte. Sofort stellt George Hull ein Zelt über die Steinfigur und verlangt von Schaulustigen Eintritt. Obwohl der Fund schnell als Fälschung entlarvt wird, werden die Besucherzahlen nicht weniger.
Im Gegenteil: Jeder will diesen versteinerten Riesen für seine Zwecke einsetzen. Er wird zum Spektakel und zum Mittel, um – ganz griffig – an einer Figur einen Inhalt aufzumachen. Die Geschichte ist höchst aktuell.
Auch heute versuchen viele Menschen, spektakuläre Statements in Form von Headlines, Videos und Bildern in die Welt zu setzen, um Aufmerksamkeit erhalten. In der Ausstellung zieht Oursler Parallelen zwischen der Geschichte des «Cardiff Giant» und der heutigen Flut an Desinformation.
Kunst als Antwort auf Fake News
Genauso wie der Atheist George Hull mit seinem «Cardiff Giant» biblische Erzählungen von urtümlichen Riesen dekonstruieren wollte und damit Geld verdiente, dekonstruiert Tony Oursler moderne Verschwörungstheorien, indem er sie in Videomontagen ad absurdum führt.

Er sagt: «Wir leben heute im sogenannten postfaktischen Zeitalter, in dem Bilder ihren Wahrheitsanspruch völlig verloren haben, und niemand weiss mehr so recht, wie wir damit umgehen sollen.»
Er wolle dazu anregen, Verschwörungserzählungen als Ausdruck von Kreativität, als eine Art Poesie zu betrachten. «Vielleicht gelingt uns so ein Umgang damit», hofft er. Mit diesem erfrischenden Blick auf Verschwörungen entzieht der Künstler ihnen das Bedrohliche. Seine Videokunst regt nicht nur die Sinne an – sondern auch die eine oder andere Hirnzelle.
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