Eine dreifache Außenseiterin: Frau, manipulativ, Roma. Und trotzdem. Diese Carmen aus Andalusien, dem nordafrikanisch-islamisch geprägten Teil Spaniens, wurde als angeblich auf Tatsachen basierende Novellenfigur von Prosper Mérimée 1845 bekannt. Dreißig Jahre später aber erlangte sie bis heute andauernde Weltberühmtheit – als Opernikone, die von Georges Bizet in Töne gesetzt wurde. Und mag man deutschen Carmens dank des unmodern gewordenen Vornamens gleich ein gewisses Alter zuordnen, auch hierzulande, dem Standort mit der größten Musiktheaterdichte überhaupt, gehört „Carmen“ mit Mozarts „Zauberflöte“ zu den populärsten Titeln.

Femme fatale, Freiheitskämpferin, emanzipierte Arbeiterin, Verführerin eines braven, ziemlich neurotischen Sergeanten. Für sie war und ist kein Klischee zu billig. Sie fasziniert und fordert heraus. Generationen von Sängerinnen, Dirigenten, Regisseuren, Musikwissenschaftlern und Genderforscherinnen haben sich an ihr abgearbeitet, sie wurde angebetet und gefleddert, verdammt und gecancelt. Sie sei toxisch, ein Produkt veralteter Männerfantasien – ganz egal, sie wird mit regelmäßigen Spanien-Wellen wie Flamenco-Revivals nur noch größer.

Und dabei verschwindet ihr Schöpfer, der Spanien nie betreten hat, nur einer modisch angesagten Klangströmung folgte, hinter dieser mythischen Figur immer mehr. Georges Bizet, geboren 1838 als Sohn musikalischer Eltern in bescheidenen Stellungen, besuchte bereits mit zehn Jahren das Konservatorium, schrieb mit 17 eine Sinfonie in C-Dur – die erst 1933 in den Archiven entdeckt wurde. Bizet war keineswegs ein One-Hit-Wonder, auch wenn die „Carmen“ sein umfangreiches Werk verblassen lässt. Der virtuose Pianist komponierte viel für das Klavier, auch Lieder, Kantaten, Orchesterwerke, eine Schauspielmusik und neun vollendete Opern.

Bald kaufte er sich im später auch von den Impressionisten geschätzten Vorort Bougival ein schmuckes Häuschen an der Seine – deren kaltes Wasser dem Badeliebhaber zum Verhängnis wurde. Nur drei Monate nach der „Carmen“-Uraufführung, die mit bis dahin 33 Vorstellungen leidlich erfolgreich war und sich erst langsam zum Besteller entwickelte, starb Georges Bizet mit 36 Jahren an seinem sechsten Hochzeitstag an einem Herzanfall. So begeht man jetzt den 150. Jahrestag der „Carmen“-Geburt und des Todes ihres Komponisten.

Vom Tableau zur Oper

Auftritt der verdienstvollen Stiftung Palazzetto Bru Zane, die sich der Pflege des französischen Musikerbes des 19. Jahrhunderts verschrieben hat. Die fährt im Jahr des 150. Todestags am 3. Juni 2025 Georges Bizet ganz groß. Wobei sie „Carmen“ terminlich schon sehr weit vorgezogen hatte. Die nämlich wurde bereits im Herbst 2023 in Rouen samt den Opéra-Comique-Uraufführungskulissen rekonstruiert. Die Produktion tourt heute noch weltweit. Zu vieles blieb dabei offen. Man muss sich auf Berichte, Stiche, spätere Ausstattungen berufen, denn für eine wirkliche Eins-zu-Eins-Wiederauferstehung ist das Setting zu unvollständig.

Carmen stammte hier aus vier hispanischen Genrebildchen: Tableau als zweite Realität. In nicht ganz korrekter musikalischer Ummantelung. Denn so wie die prächtigen Christian-Lacroix-Kostüme heutige Schnitte wie Stoffe verwenden, spielt das Orchester auf modernen Instrumenten die von fremder Hand nachkomponierte Rezitativfassung.

Man führt die berühmteste Oper der Welt bis heute in einer (Ver-)Fälschung auf. Das Original liefert die neue Bärenreiter-Partitur mit den originalen, sehr frechen, auch komischen Dialogen. Da fehlt etwa Carmens klangliche Visitenkarte, die Habanera von der Liebe, die bunte Flügel verleiht. Célestine Galli-Marié, die Sängerin der Uraufführung, wollte ein spektakuläreres, aber leider auch weniger passendes Auftrittslied. Die Melodie, sie ist nur eine Anleihe, von Bizet verfeinert. Der Komponist wollte als Torero Escamillo keinen Bariton-Macho und als Don José keinen Heldentenor; bei ihm klingen gerade die männlichen Figuren weicher, gebrochener, romantischer. Dafür musste er die Chöre vereinfachen, vielfach kürzen. Der übliche Schlendrian des Theateralltags, er macht auch bis heute bei „Carmen“ nicht halt. Denn im weltweiten Operngeschäft sind eben Rezitative leichter zu lernen als französische Dialoge.

Unter dem Titel „Rebelle“ hat der Palazzetto zudem ein Album auf den Weg gebracht, das ein helles Licht auf Galli-Marié (1837-1905) wirft. Diese hatte zwischen 1850 und 1878 noch einer weiteren Vielzahl von Rollen ihren ganz persönlichen Stempel aufgedrückt, etwa Offenbachs Fantasio sowie der Mignon in Ambrois Thomas’ Goethe-Vertonung.

Als vier CDs mit 244 Spielminuten umfassendes „Portrait“ erschien bei Palazzetto Bru Zane noch viel mehr Unbekanntes aus dem Werk Bizets. Darunter die melodramatische Ode symphonique „Vasco de Gama“ inklusive eines mitreißenden Boleros. Eine schöne Studienouvertüre, Chöre, Lieder und Klavierstücke ergänzen diese großartig editierte Ausgabe, für die interpretatorisch das Beste der gegenwärtigen Franko-Musikszene aufgeboten wurde.

Außerdem veranstaltete der Palazzetto Bizet-Festivals in Venedig und – noch laufend – in Paris. Dort konzentrierte man sich vor allem auf einen großen, zweiteilig-szenischen Musiktheaterabend im renovierten Théâtre du Châtelet. Der 18-jährige Bizet hatte 1856 einen von Jacques Offenbach ausgelobten Einakter-Wettbewerb mit der Hochzeitsbetrugs-Farce vom „Docteur Miracle“ gewonnen.

Tragödienhaft und schicksalsschwer geht es hingegen in der Bizet-Schauspielmusik für den Provence-Barden Alphonse Daudet zu. In „Das Mädchen aus Arles“ ruiniert die nie leibhaftig auftretende Frau als Carmen-Vorläuferin das Leben des braven Bauernburschen Frederi und treibt ihn in den Tod. In dem schmutzig grauen Bauernambiente zieht der charismatische Eddie Chignara als Erzähler Balthazar vor einer vom Karren zur klapprigen Mühle ausziehenden Bühnenbildkonstruktion das Publikum in den Bann Bizets. Und der hat, 150 Jahre tot, durch hörenswerte Werkwiederentdeckungen einiges an musikalischen Facetten dazugewonnen.

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