Verstehen Sie Spaß? Bei dieser Komödie dürfte jedoch selbst den abgebrühtesten und hartgesottensten Zuschauern das Lachen vergehen. Nur wann? Wenn die Gotenkönigin, der gerade ihre eigenen Kinder als Fleischpastete vorgesetzt wurden, über die unerwartete Wiederaufnahme ihrer Leibesfrucht sinniert? Oder wenn die Vergewaltiger, deren Opfer sich mit herausgerissener Zunge und abgehackten Händen wimmernd vor ihnen im Staub windet, Witze übers Zerhacken von Körpern machen? Oder reicht schon der hungrige Bauer, der Gerechtigkeit verlangt und als Antwort den Galgen bekommt?

„Gerechtigkeit? Gerechtigkeit?“, schallt es zwischen den hohen Mauern mit vergitterten Fenstern und Stacheldraht hin und her. Nur wo ist sie, die Gerechtigkeit? Versteckt sie sich unter der Treppe des Bühnenbilds? Fehlanzeige. Es gibt zwar einige Stücke der modernen Theaterliteratur, in denen auch nicht zu knapp gemordet, verstümmelt, gefoltert und vergewaltigt wird, aber kaum eines, in dem so radikal selbst noch das letzte Fünkchen instrumenteller Zweckrationalität abhandengekommen ist, wie „Titus Andronicus“ von William Shakespeare. Ein Stück wie eine völlig überdrehte Mischung aus Tarantino und „Game of Thrones“, in dem der Mensch kaum mehr als eine Portion Fleischsalat auf dem kalten Büfett der allesverschlingenden Weltgeschichte ist. Da hilft nur noch das Lachen der Verzweiflung, das lässt sich sonst wirklich kaum aushalten.

Das Gefängnistheater AufBruch, seit über 25 Jahren spezialisiert auf Kunst im Grenzbereich, hat sich mit dem Ensemble der JVA Tegel „Titus Andronicus“ von Shakespeare vorgenommen, angereichert mit den Bearbeitungen von Friedrich Dürrenmatt – von dem der Zusatz „Eine Komödie“ kommt – und Heiner Müller. Gespielt wird im Innenhof des Gefängnisses, den das beim Einlass kontrollierte Publikum und die von Justizbeamten begleiteten Darsteller gemäß der Natur der Spielstätte aus unterschiedlichen Richtungen betreten und wieder verlassen. Auch das eine vom Theater ermöglichte Grenzbegegnung, die als Gegenmittel zur geistigen Zentralverriegelung der Echokammern und Bubbles von unschätzbarer Wichtigkeit ist.

Zwei Stunden entführt einen das großartige Ensemble, das hier zuletzt Bertolts Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ und „Die Dreigroschenoper“ aufgeführt hat, in die Endzeit des Römischen Reiches. Das Imperium ist auf dem Höhepunkt der Macht, der erfolgreiche Feldherr Titus hat gerade ein paar Gotenvölker fachgerecht in ihre Einzelteile zerlegt. Und doch ist das Reich auf einem Selbstzerstörungstrip, der mit den Barbaren im Osten reichlich wenig zu tun hat, umso mehr allerdings mit inneren Zersetzungserscheinungen. Das Gemeinwesen wird von einem Kampf der Cliquen und Banden zerrieben. Das Recht wird zur Farce, statt Gerechtigkeit gibt es nur noch Rache. Da kann man also lange suchen, selbst in den entferntesten Winkeln des Staates.

Entwestlichung des Westens

Und so grausam es ist, der rasanten Auflösung aller sozialen Bande im römischen Staat zuzuschauen, so lehrreich ist es auch, da sich ein Vergleich mit der heute vor aller Augen vollziehenden Entwestlichung des Westens aufdrängt. Und vor allem: So unterhaltsam ist es auch, wie das Ensemble – angeleitet von Regisseur Peter Atanassow – diesen Exzess von Untergang und Dekadenz spielt. Darunter viele bekannte Gesichter aus den vergangenen Jahren – wie H. Peter Maier C.d.F. als größenwahnsinniger Kaiser Saturnin, Atak als soldatischer Titus oder Norman als finstere Gotenkönigin Tamora – und ausgesprochen starke Neuzugänge wie André S. als schwarzer Außenseiter Aaron.

Es ist eine irre Freude, die harten Jungs aus dem Knast in den prächtigen Kostümen der langjährigen Kostümbildnerin Haemin Jung zu sehen, wie sie die schlichte Verbildlichung römischer Macht – oben der goldene Thron, unten der Folterkeller – von Bühnenbildner Holger Syrbe hoch- und runterstolzieren, sich auf vorgestellte Pferde schwingen oder den Götterhimmel mit Pfeil und Bogen zu leeren versuchen. Eine ernste Kehrseite gibt es auch, denn ein paar der Darsteller dürften mit den Gewaltverbrechen, die hier straflos gezeigt werden, ihre eigenen strafbaren Erfahrungen gemacht haben. So schlüpfen sie in einer Szene aus ihren Rollen und befragen diese – stellvertretend für sich selbst? – nach ihrem Beitrag zu dem Spektakel der Grausamkeit. Ein Moment der Distanz, in dem sich die Hoffnung einnisten kann, dass es doch einen Ausweg gibt?

Klar, im Theater ist alles Spiel, was in Wirklichkeit brutaler Ernst ist. Und doch gibt es wohl kaum ein Theater, in dem gerade die alte klassische Idee der ästhetischen Freiheit heute noch so erfahren werden kann wie beim Gefängnistheater. Wenn Friedrich Schiller über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts schreibt, dass „im fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins“ dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse und allem, was Zwang heißt, abgenommen werden, so bedeutet das im Stadt- und Staatstheater großstädtischer Selbstverwirklicher so gut wie nichts, unter Gefangenen – denen man nicht groß erklären muss, was Fesseln oder Zwang heißt – jedoch sehr viel. Und mit dieser kleinen Erfahrung von Freiheit in der Unfreiheit fängt für Schiller alles an.

Wer eine Ahnung bekommen will, wo heute die klassische Bildungsidee der Aufklärung noch von Bedeutung ist und nicht wie schon im alten Rom von den oberen Schichten längst wie ein aus der Mode gekommenes Kleidungsstück abgelegt wurde, muss eine Aufführung des Gefängnistheaters sehen. Und sollte auch im Anschluss die Möglichkeit nutzen, mit den Spielern zu sprechen, die davon erzählen können, wie das Theater in ihrem Leben etwas verändert hat. Unter den Kunstbeamten des heutigen Kulturbetriebs dürfte man solche glaubhaften Bekenntnisse kaum finden.

Umso dramatischer, dass das Gefängnistheater AufBruch nach den drastischen Kürzungen des Berliner Senats nicht weiß, ob und wie man das Projekt weiterführen kann. Für dieses Jahr konnten noch zusätzliche Mittel beschafft werden, doch für 2026 herrscht große Unsicherheit. Dabei geht es um wenig Geld, das eine große Idee im Geiste Schillers am Leben halten könnte.

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