Es gab eine Zeit, da hätte man diesen Pianisten für den Stellvertreter Ludwig van Beethovens wie Franz Schuberts auf Erden halten können. Keiner zog die architektonischen Linien des einen in so kühnen Bogen und blieb doch gleichzeitig bei aller Dramatik sachlich unterkühlt, zurückhaltend, ja scheinbar objektiv. Die Traumverlorenheit des anderen kostete er mit unvergleichlicher Zartheit aus, ohne in den heißen Tränenfluss des Weinerlich-Schluchzigen abzugleiten. Die von ihm besonders geliebte letzte, die B-Dur-Sonate, nahm er unsentimental, wehmutsvoll, nie im Tempo nachlassend, aufgelichtet in der Struktur, konturenstark ausgeprägt in der thematischen Entwicklung. Auch hier wahrte er den wohlmeinenden Abstand, der seine Interpretation so klug wie gütig, gültig sowieso machten.
Alfred Brendel war eine Institution. Dabei machte dieser Alfred Brendel so gar nichts her. In jüngeren Jahren soll er zwar eine Baby-Schildkröte an seidenem Band durch den Musikverein spazieren geführt haben. Doch später kam er, professoral wirkend selbst im Frack, mit seinem buschigen Blumenkohlkräuselhaar links und rechts der dicken Brille, die die Augen raupenhaft klein erscheinen ließen, ohne jede Podiumsshow: Er verbeugte sich knapp und spielte. Und verzauberte doch den Saal, ließ seine Anhänger ergriffen wie entzückt zurück. Das musste sich dieser Künstler erst erarbeiten, obwohl er doch ganz geradlinig, wenngleich langsam vorangeschritten ist. Denn er war kein Wunderkind, der Rum kam erst in den mittleren Jahren.
Geboren wurde Alfred Brendel am 5. Januar 1931 im tschechischen Wiesenberg, in Nordmähren, hinter Olmütz, nahe an der polnischen Grenze. Früh zog die aus Österreich stammende Familie nach Jugoslawien, wo der Vater auf der Adriainsel Krk eine Pension unterhielt. Mit sechs Jahren begann er in Zagreb Klavier zu lernen, ab 1943 studierte er in Graz. Er vervollständigte sich bei Paul Baumgartner und vor allem bei Edwin Fischer. 1947 examinierte er in Wien. 1949 gewann er den schweren Busoni-Wettbewerb in Bozen. 1950 zog er nach Wien, Anfang der Siebziger nach London, Hampstead.
In ihm mischte sich Altösterreichs in seiner Kindheit schon gestriges Vielvölkergemisch mit britischer Exzentrik. Literatur und Malerei haben den jungen Brendel interessiert, er hat sich für das Klavier entschieden. Und später dann noch für das essayistische wie humoristische Schreiben. Für die Klassikgemeinde wurde er freilich immer mehr zum guten Klaviergewissen, zur mitteilsamen, erklärenden Autorität. Und durch seinen Gelehrtenhabit auch zum unfreiwilligen Guru. Denn der Mensch will verstehen, will geleitet werden.
Alfred Brendel war ein tonangebender Künstler, eine der pianistischen Speerspitzen der Schallplatten- wie CD-Ära, als sich das langsam zwar nicht mehr selbst das Klavier bedienende Bildungsbürgertum mit akustischen Artefakten zu umgeben begann. Er hat als Erster überhaupt das gesamte Beethoven-Klavierwerk und dann noch zweimal alle 32 Sonaten eingespielt. Er hat als seine erste Soloeinspielung überhaupt 1952 Franz Liszts „Weihnachtsbaum“ erstmals vor Mikrofonen zu Gehör gebracht und später Liszt wieder in den Mainstream bugsiert. Er war eine der Stützen der längst nicht mehr existierenden Firma Philips.
Solide und ohne Allüre
Alfred Brendel hat sich dort und im Konzertsaal für Haydn wie Schubert als ernst zu nehmende Sonatenverfasser eingesetzt, für den angeblichen Kleinmeisterpapa und das vorgeblich gemütsvolle Schmerzensdickerchen. Er hat den ganzen, auch verquälten Robert Schumann erlebt, ja auch gelebt. Von Mozart hat er den Puderzuckerüberzug weggeblasen, das Schönberg-Klavierkonzert weltweit und nachhaltig promotet.
Brendel war kein felsenfester Techniker, ein dampfender Virtuose schon gar nicht. Warum also liebten die Menschen Alfred Brendel, der sie, groß, hager, nach vorn gebeugt, immer ein wenig erschreckt durch seine dicke, altmodische Brille anstarrte, kurz lächelte, auf dem Klavierschemel Platz nahm und leicht, schnell und sehr gefasst loslegte? Brendel war nicht schön und nicht sexy, dafür aber klug und wunderlich. Seine Repertoirewahl blieb insgesamt übersichtlich, in seinen letzten Karrierejahren schrumpfte sie noch mehr. Er war solide und – bis auf seinen Kampf gegen das Husten im Konzertsaal – ohne Allüre.
Er war so jenseits jeder Mode, dass man solches heute für eine Masche und Marke halten würde, wenn man vor Jahrzehnten schon in Marketingkategorien gedacht und globale PR-Kampagnen geplant hätte. „Früher zog der Brendel gar nicht“ erinnerte sich in den späten Jahren einer seiner Konzertveranstalter. „Der war den Leuten zu trocken. Heute verehren sie ihn.“
Brendel war ein Antistar, der genau aus diesen Gründen ein später Star wurde. Weil er sein Publikum nicht mit Tastenmagie behexte, sondern mit Demut und interpretatorischer Tiefe berührte. Weil er nie extrem spielte, aber immer mit dem richtigen Maß. Seine Wiener-Klassik-Auslegungen galten einmal – Moden ändern sich – als das Nonplusultra aller Pianistendinge. Haydn, Mozart und Beethoven mit Brendel, da lag man als Kaufentscheidung immer richtig, da konnte man nichts falsch machen. Und er konnte zudem bildhaft und intelligent über Musik reden und – eben mehr noch – schreiben. In seinen letzten aktiven Klavierjahren und danach erwies er sich mit kiebigen Gedichtbänden zudem noch als (schwarz)humorig hintergründiger Miniaturist.
Ein Künstler, auf den man sich verlassen konnte. Schon früh hatte sich Brendel im riesigen Feld des Pianistenrepertoires für eine Flur entschieden. Die hat er immer wieder umpflügt, gehegt, gejätet und abgeerntet. Weil er ein neugieriger Zeitgenosse ist, wollte er dort alles kennen und so schnüffelte er als Enzyklopädist in jede Werkecke eines von ihm geschätzten Komponisten. Moderne freilich war, dem Schönberg-Konzert zum Trotz, kaum dabei. Dafür spiegelte sich in seinem Spiel, rational, gefasst, heiter, warm, immer auch ein Stück vergangenes Europa wider.
Er strahlte zudem Solidität und Bildung aus, und Sendungsbewusstsein durchaus: Er war einer ohne Krisen, einer, der in Konzerten mit Dirigenten der älteren Generation zurechtkam, aber auch von jüngeren, historisch informierten Pultstars wie Simon Rattle verehrt wurde, mit dem er sämtliche Beethoven-Konzerte eingespielt hat. In seinen besten Momenten gelang Musik, die schwebt, die um ein Geheimnis weiß, das gar nicht so schwer scheint: Wissen, Konzentration und Demut. Eine magische Abgeklärtheit, die Ton wird, war die Folge.
Nach 60 Karrierejahren aber konnte und wollte er nicht mehr. 2008, er war 77 Jahre alt, gab es letzte Soloabende, bis in die Tonartenfolge genau ausgeklügelt. Er sagte endgültig Ade, selbstbestimmt, aber auch mit deutlich nachlassenden technischen Fertigkeiten. Am Ende standen Liszts leuchtender „Lac de Wallenstadt“ und Schuberts feines Ges-Dur Impromptu als rasch gewährte Zugaben.
Der Marcel Reich-Ranicki des Klaviers
Am 18. Dezember 2008 war dann endgültig Schluss: mit einem letzten Konzert der Wiener Philharmoniker unter Charles Mackerras. Auf dem Programm: Mozart – das Jeunehomme-Konzert. So wie es einem sanften, nur selten scharfen Ironiker entsprach. Und als dritte und letzte Zugabe gab es diesmal das von Busoni bearbeitete Bach-Choralpräludium: „Nun komm, der Heiden Heiland“. Danach gab es konsequent nie wieder einen Brendel-Klavierton in der Öffentlichkeit.
Doch verstummt und verschwunden war Alfred Brendel seither nicht. Ein Großer trat da damals ab, das berührte Publikum aber weinte ihm nicht nach: Der Klavierspieler hatte seine Schuldigkeit getan – und ging in den Unruhestand. Er hat darüber gesagt: „Bei dem einen oder anderen Stück denke ich: Du hast die Sache noch nicht gelöst, das kannst du besser machen. Dann spiele ich es im Kopf noch einmal neu ein.“ Ansonsten sprach und unterrichtete Brendel ein wenig, etwa den vom ihm etwas vorschnell als „Wunderkind“ apostrophierten Kit Amstrong. Er verfasste Aufsätze und immer neue, skurrile Gedichte, schmückte als Lektor feine Kammermusikfestivals, tauchte als kluger, bisweilen mürrischer Greis auch noch in den großen Konzertsälen auf. „Wer schreibt, der bleibt“ – fast schien es, als habe sich der längst von der Queen zum Sir Alfred geadelte Wahllondoner österreichischer Abstammung solches zum Motto genommen.
Der professorales Wirkungsbewusstsein ausstrahlende Alfred Brendel, er war in seiner reifen Glanzzeit so etwas wie der Marcel Reich-Ranicki des Klaviers. Ein vertrauenswürdiger Volksaufklärer. Obwohl er über sich und sein abgeklärtes, scheinbar objektives Spiel stets sagte: „Ich bin nicht die Gouvernante der Komponisten.“ Trotzdem mutierte er zum Piano-Kanoniker, dem man alles abnahm, der einen anleitete und begleitete. Bis er aufhörte – als denkender Interpreten schöner Pianotröstungen. Als solcher ist Alfred Brendel jetzt gestorben. Er wurde 94 Jahre alt.
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