Es ist kurz vor vier Uhr in der Frühe, als die letzten Verbliebenen aus der Kirche auf den Vorplatz treten. Sieben Stunden dauerte „Der Prozess Pelicot“. Sieben Stunden, in denen beschrieben wurde, wie Gisèle Pelicot über Jahre von ihrem Mann Dominique Pélicot betäubt und vergewaltigt wurde, wie er sie anderen Männern wie ein Stück Fleisch zur Vergewaltigung anbot, alles festgehalten auf Fotos und Videos. Sieben Stunden mit den Ausflüchten der Täter, mit aggressiver Abwehr oder Verleugnung. Sieben Stunden, in denen die Schuld gesucht wurde, bei den Männern, ihrer Kindheit oder der Gesellschaft. Sieben Stunden an der Grenze des Erträglichen, die zu dem Erschütterndsten gehören, was das Theater zeigen kann. Sieben unerlässliche Stunden.

„Ein Tribut an Gisèle Pelicot“ haben der Regisseur Milo Rau und die Dramaturgin Servan Dècle ihre Reise zum Herz der Finsternis genannt, die bei den Wiener Festwochen in der Kirche St. Elisabeth aufgeführt wurde. Vom „Gotteslob“, wie man auf den ausliegenden Gesangsbüchern liest, möchte man im Angesicht dieser Verbrechen am liebsten für immer schweigen, nur der auf den Gemälden im Seitenschiff gezeigte Kreuzweg scheint an das Martyrium von Gisèle Pelicot heranzureichen. Manche Zuschauer sinken im Laufe des Abends in sich zusammen und fallen in die kniende Gebetshaltung, als wollten sie – vergeblich? – für die Erlösung von dem Bösen bitten. Oder ist es heute an der Kunst statt der Religion, noch die Hoffnung auf das Weltgericht am Leben zu halten?

Dass eine Kirche der richtige Ort für eine solche Aufführung ist, zeigt sich allein daran, dass immer wieder in den Redewendungen des Religiösen Zuflucht gesucht wird. „Ich bin auf dem Altar der Perversion geopfert worden“, sind die Worte, die Gisèle Pelicot wählte. Von vielen Menschen auf der ganzen Welt wird sie als Ikone verehrt, wie eine frühchristliche Märtyrerin und Heilige. Ihr Vorbild, dass die Scham die Seite wechseln müsse, gibt nicht nur anderen vergewaltigten Frauen, sondern auch Folteropfern des „Islamischen Staat“ die Kraft, das eigene Leiden auszusprechen. Auf der anderen Seite sprach auch Dominique Pelicot von ihr als Heilige und Göttin, während er die Videos mit „meine Schlampe“ überschrieb: der uralte Mythos von der Frau als Hure und Heilige.

Es sind drei Akte – oder Höllenkreise –, durch die man hindurchmuss. Dècle und Rau, der immer wieder theatrale Prozesse inszeniert, haben Unmengen an Material gesichtet und verdichtet, sodass ein dramaturgischer Bogen entstanden ist, der einen immer tiefer ins Unglück hineinzieht. Alle kommen zu Wort: Gisèle Pelicot, ihre Familie und Anwälte, Dominique Pelicot, die 50 weiteren Angeklagten und ihre Anwälte, eine Gruppe von Anthropologen und ihre Interviewpartner auf der Straße, Experten, Journalisten, Prozessbeobachter, Aktivisten. Es ist ein vielstimmiges Mosaik des Grauens, das nicht dem grellen und reißerischen Voyeurismus verfällt, sondern mit unnachgiebiger Präzision den Blick auf das Gesamtbild lenkt: Erkenntnisinteresse statt Gewaltporno.

Die Darbietung ist entsprechend nüchtern: Es wird aus Dokumenten gelesen, die größtenteils aus dem Prozess stammen, der vergangenes Jahr in Avignon stattfand, oder aus der Debatte oder Berichterstattung darüber. Die einzelnen Sprecher treten an das Pult, ihr Gesicht groß per Video auf eine Leinwand übertragen. Eine überzeugende Entscheidung: Jeder Versuch der Bebilderung wäre wohl nach hinten losgegangen. Dass hier nur das Wort herrscht, ist bereits ein Versuch der Bewältigung. Ist ein Versuch, etwas zu versprachlichen, wo eigentlich die Worte fehlen. Ist ein Versuch, etwas verhandelbar zu machen, was sich selbst durch Gewalt jeder Verhandlung entzogen hat. Sprache ist Arbeit an der Hoffnung, dem mythischen Schrecken zu entkommen.

Kann es Erklärungen für das geben, was in dem südfranzösischen Städtchen Mazan am Fuße des Mont Ventoux geschah? Dass der Marquis de Sade – dem wir bis heute den Begriff des Sadismus verdanken – einst sein Schloss in Mazan hatte, ist allenfalls ein Detail für die Liebhaber schauriger Romantik. Die Männer, die in das von Gisèle Pelicot geliebte Haus kamen, in das Zimmer mit violetten Pastelltönen, um gemeinsam mit oder vor den Augen von Dominique Pelicot die bewusstlose Frau zu vergewaltigen, mit der er am Ende 50 Jahre verheiratet war, kamen alle aus der Umgebung. Darunter auch der Nachbar, den man beim Bäcker traf. Bis heute konnten nicht alle Männer auf den Videos identifiziert werden. Nur 50 standen vor Gericht und wurden alle für schuldig befunden.

Was sind das für Männer? Sie sind zwischen 22 und 67 Jahren alt, verschiedener sozialer Klassen und Berufe. Sie werden als fürsorgliche Familienväter beschrieben, als unauffällig, kurz: Menschen aus der Mitte der Gesellschaft. „In Avignon kennt jeder jemanden, der einen Angeklagten kennt“, wird Manon Garcia zitiert, die Autorin des feministischen Buchs „Das Gespräch der Geschlechter“. Mittelmäßigkeit statt Monstrosität? Gesunde Kinder des Patriarchats statt kranker Männer, wie es in den Parolen von Aktivisten heißt? Doch knapp ein Drittel der Täter hat selbst sexuelle Gewalt in der Kindheit erlebt, darunter auch Dominique Pelicot, der im Alter von 9 Jahren vergewaltigt wurde und mit 14 Jahren zu einer Vergewaltigung gezwungen wurde.

Frauen werden wieder Opfer, Männer werden Täter, erklärt ein Psychiater den grausamen Wiederholungszwang. Entschuldigt ist damit nichts. Und was ist mit den zwei Dritteln, die keine solchen traumatischen Erfahrungen gemacht haben? Der psychiatrische Gutachter spricht von Ich-Bezogenheit und Abspaltung von Gefühlen, was durch Internetpornografie unterstützt wird. Wer sexuelle Fantasien nur mit sich selbst vor dem Rechner auslebt, objektiviert den Anderen durch Technik, lautet die These. „Die Zustimmung des Anderen zählt nicht.“ Ist das die Quelle der berüchtigten Vergewaltigungskultur? Oder muss man von einer Vergewaltigungsnatur sprechen, von evolutionsbiologischen Empathiehemmern des brutalsten aller Tiere, des Menschen?

Dass es sich bei den Vergewaltigungen von Gisèle Pelicot um die „Symptome einer zutiefst kranken Gesellschaft“ handelt, wie ein Beitrag in einer rechtskonservativen Zeitung es formuliert, scheint durch alle politischen Lager hinweg nahezu unstrittig. „Der Prozess Pelicot“, und das macht diesen Abend so schmerzhaft, aber zwingend, legt sich bei der Ursachenforschung nicht fest, sondern präsentiert verschiedene Thesen. So begann Dominique Pelicot mit den Vergewaltigungen, nachdem er als Makler in der Immobilienkrise ruiniert und arbeitslos wurde. „Ich wollte sie brechen“, sagte er in dem Prozess über seine beruflich erfolgreichere Frau. Der Psychiater nennt das einen Versuch, mit brutaler Gewalt Kontrolle über das eigene Leben zurückzugewinnen.

„Sie waren meine Komplizen“

War Dominique Pelicot, das „Monster von Mazan“, wie er in der Presse genannt wurde, ein Verführer zum Bösen? So sagen es ein paar der Angeklagten. Sie seien in eine Falle gelockt, getäuscht und manipuliert worden. Dominique Pelicot widerspricht. Alle Angeklagten hätte zweifelsfrei gewusst, was sie tun: „Sie waren meine Komplizen.“ Manche ließen sich gar die „chemische Unterwerfung“ von ihm beibringen und vergewaltigen ihre Frauen. Am Ende sagen die meisten Angeklagten, sie hätten nie die Absicht gehabt, jemanden zu vergewaltigen. Und es ist nur ein Einziger, der die Sache beim Namen nennt und seinem Opfer antwortetet: „Ich werde die Scham auf mich nehmen.“ Es ist tatsächlich ein „Prozess gegen die Feigheit“, wie Gisèle Pelicot sagt.

Ein Mann kommt zu Wort, der auf das Angebot von Dominique Pelicot, seine Frau als „Bezahlung“ für Gartenarbeit zu vergewaltigen, nicht einging. Er habe kein gutes Gefühl gehabt, weil die Frau durch Tabletten bewusstlos gesetzt wurde. Dieser Mann erinnert an das Minimum, das allen Männern immer offenstand: sich zu entscheiden. Doch in den zehn Jahren des Martyriums von Gisèle Pelicot, die nahezu wahnsinnig wurde aufgrund ihrer rätselhaften Aussetzer, war kein einziger unter ihnen, der auch nur anonym etwas meldete. Dominique Pelicot flog am Ende auf, als er erwischt wurde, wie er in einem Supermarkt Frauen ohne deren Wissen unter den Rock fotografierte. Auf seiner Festplatte fand die Polizei um die 20.000 Dateien von den Vergewaltigungen.

„Meine Welt ist zusammengebrochen“, sagte Gisèle Pelicot nach der Enthüllung, dass ihr Ehemann zugleich ihr Peiniger war. Mit ihren Kindern verbrannte sie die Fotoalben im Garten. Und für ihre Enkelkinder verwandelte sie den Namen Pelicot vom Symbol der feigen Gewalt in eines des Muts. Eine Umcodierung, wie sie bei den Wiener Festwochen bereits Carolina Bianchi mit ihrer wütenden Anklage „The Brotherhood“ versuchte, auch ein Abend über Vergewaltigung. Und auch in Milo Raus „Die Seherin“ ging es am Beispiel eines Opfers des „Islamischen Staats“ schon um die Frage, wie man der Gewalt und den Bildern der Gewalt entgehen kann. Die Lösung wird nicht im Theater zu finden sein, doch es kann immerhin Hilfestellung zur nötigen Konfrontation leisten. So wird „Der Prozess Pelicot“ nächsten Monat in einer kürzeren Fassung beim Festival d’Avignon gezeigt.

In der allerletzten Szene verlässt „Der Prozess Pelicot“ den Gerichtssaal und das Umfeld, sogar die Gegenwart. Es geht literarisch hoch auf den Mont Ventoux, der auf einem Wandteppich im Gericht zu sehen ist. Es ist eine Schilderung von Petrarca, die berühmteste Besteigung des Berges, die heute als ein Gründungstext der Erneuerung des Humanismus in der Renaissance gilt. Man soll nie vergessen, sich selbst zu betrachten, heißt es da. Mit diesen Worten tritt man in die Nacht hinaus, die in dieser Stunde am tiefsten ist. Doch ist nicht genau dann auch der Tag am nächsten? Und tatsächlich zieht am Horizont die Morgendämmerung auf, wie ein Streif der Hoffnung trotz allem, was man in diesen zutiefst aufwühlenden sieben Stunden erlebt hat.

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