Wenn Dichter Häuser entwerfen, geraten sie ihnen nicht selten zu wuchernden Gebilden. Nicht selten auch entwerfen Architekten ihre Häuser nach Art der Dichter. Im dicken Roman mit dem schwierigen Titel „Hypnerotomachia Poliphili“, den sie dem Renaissance-Dichter Francesco Colonna zuschreiben, spielt die unendliche Liebesgeschichte auf einer Bühne voller überwachsener Ruinen, schiefer Tore und wie mit Blüten überwachsener Hallen, als gelte es, allen Zauber vor dem rechten Winkel zu bewahren.

Viel, viel später, im frühen 20. Jahrhundert, hat sich der böhmische Maler Wenzel Hablik eine „Freitragende Kuppel mit fünf Bergspitzen als Basis“ ausgedacht und von einer fliegenden Siedlung geträumt, wo die Menschen den Wolken endlich so nahe wären wie die Vögel. Eine Ausstellung, die mit fliegenden Siedlungen beginnt, hat uns schon gewonnen.

Wohlgelaunt, überschwänglich, animierend erzählt die Tübinger Kunsthalle von den erstaunlichsten Architekturvisionen, wie sie die jüngere Geschichte der gestrengen Baukunst begleiten. Ein heiteres Gegenprogramm, das sich umso anregender, inspirierender ausnimmt, wenn man die Umgebung mitbedenkt, diesen stark betonös überbauten Wohn- und Universitätshügel, auf dem sich die Kunsthalle duckt.

Nackter, dürftig überwachsener 1960er-Jahre-Brutalismo, der die Wirtschaftskraft der Bundesdeutschen in Hochhäusern und Siedlungsblöcken versinnlichen wollte, als sei Wohnen nur eine Funktion optimierter Stapelmöglichkeiten. „Schöner Wohnen“, ruft die Ausstellung dagegen. Und der betagte Illustrierten-Titel passt ganz gut zur kurzweiligen Revue alternativer Architekturideen.

Kristallpaläste und lyrische Architektur

Es ist ja doch von erheblichem Reiz, wenn man unter den Anhängern der strengen Disziplin, die ihr Studium lang nichts anderes als isometrische Planskizzen gezeichnet haben, mit einem Mal veritable Schwarmgeister entdeckt, die wie der Stadtplaner Bruno Taut eisige Alpengipfel in Kristallpaläste verwandeln wollten. Oder Hans Scharoun, von dem so machtvolle Stadtzeichen wie die Berliner Philharmonie oder die Großsiedlung Siemensstadt geblieben sind, zeichnet 1919 eine zapfenartige Scheme, die inmitten eines sich aufschließenden Kraftfelds emporwächst. Ähnlich der Stuttgarter Hermann Finsterlin. Seine verwunschenen Gebäude-Gebilde erinnern alle an riesenhafte Rosen, die sich gerade öffnen. Immer wieder nehmen die Architekturlyriker an Frucht und Blüte Maß.

Jedenfalls gehört der organische Widerstand gegen das Diktat der Geo- und Stereometrie zu den ursprünglichsten und beständigsten architektonischen Alternativideen. Wohl hat sich der Mensch daran gewöhnt, dass nichts hält, nicht funktioniert, was nicht einigermaßen gerade ist. Aber das frei Wachsende, richtungslos Sprießende und die Form Auflösende sind ihm darüber als Gegenbild nie abhandengekommen.

Und weit über den Expressionismus hinaus ist die rigide Aufkündigung von Maß und Mitte ein Wachtraum geblieben. Als sei die Moderne, diese triumphale Nutzanwendung des Geistes über die Freiformen des Lebens doch nur ein Schicksal, das zumindest des Einspruchs der Poesie bedürfe. So streift die Ausstellung ohne enzyklopädischen Anspruch durchs 20. Jahrhundert.

Sie schaut der österreichischen Gruppe Haus-Rucker-Co zu, wie sie die Bausubstanz am Broadway mit blasenartigen Additiven überwölbt. Verweilt einen Augenblick bei Friedrich Kiesler und seinem 1950er-Tonmodell eines „Endless House“, das man sich jedenfalls von außen vorzustellen hat wie ein gewaltiges Ei im Wald. Während es im uneingerichteten Inneren an eine monumentale Höhle gemahnt, an die sich der Mensch, wenn er ganz weit zurückdenkt, doch noch gut erinnern kann.

Ein Riesenschritt dann zu Ron Herron von der britischen Gruppe Archigram, der sich die Stadt als gigantisches UFO auf ausschreitenden Stelzen vorstellt, als „Walking City“ (1964), wobei allerdings offen bleibt, wer darüber bestimmt, in welche Richtung sich die Stadt der Zukunft auf und davon macht. Weshalb das mobile Massenwohnraumschiff auch Modell geblieben ist – geradeso wie Jan Kaplickys „Future Project 124“ aus dem Jahr 1984, eine Wohnkapsel auf Tischleuchtengestell, die auch mit Antenne und rotem Heck allzu sehr an eine unheilvolle Gerätschaft aus der Zahnarztpraxis gemahnt.

Es hat ja fast etwas Anrührendes, wenn man zusieht, wie die Körper und die Seelen immer wieder mit der Vorrangstellung konstruktiver Vernunft in Konflikt geraten. Da kann sich der Bauhaus-Schlemmer Oskar noch so große Mühe geben, die strikten Vernunftformen Kreisel, Kubus, Kugel den unkreiseligen, unkubischen, unkugeligen Körpern seiner Tänzer anzupassen, das Ergebnis bleibt doch wunderbar grotesk.

Das wird zwar nicht gezeigt in der Ausstellung, aber es fällt einem doch gleich ein. Zumal, wenn man vor dem zauberhaften Blatt der finnischen Designerin Aina Aalto steht, die säuberlich mit Tusche auf Transparentpapier zeichnet, wie sie sich einen Nähtisch mit Regal vorstellt, einen Arbeitsplatz, der so proportioniert ist, dass der ausgestreckte Arm sämtliche Utensilien erreicht.

Leben wie im Sixties-Puff

Weil die Ausstellung nicht streng zwischen draußen und drinnen, zwischen Architektur und Wohnen unterscheidet, macht sie auch im Wohnzimmer des dänischen Designers Verner Panton halt. Der hatte in Binningen in der Nähe von Basel eine Atelierwohnung, die natürlich mit den eigenen rundbogigen Designklassikern bestückt war. Fast alle mit Samtteppichen weich belegt, ein blaurotes Möbelgemisch mit der etwas seltsamen Anmutung eines 1960er-Jahre-Puffs.

Vor allem auch das macht die vergnügliche Lehrstunde in der Tübinger Kunsthalle einmal mehr bewusst, wie zeitbedingt und zeitbezogen die Dinge sind, von denen man doch annehmen sollte, dass sie für das Formenbewusstsein so ehern und unvergänglich bleiben wie ein griechischer Tempel oder eine gotische Kathedrale. Wie viele Einfälle lagern auf der Schöner-Wohnen-Deponie?

Archivmaterial allenfalls, Müll in der Regel, Museumsgut eher selten. Weiß noch jemand, was das war: „Postmoderne“? Ettore Sottsass, Matteo Thun, Michele De Lucchi, die Helden aus dem „Memphis“-Team, die in den 1980er-Jahren jeden Kleiderschrank auf kugelrunde Füße stellten? Alles vorbei.

Gerade die gestalterische Opposition gegen die Formenregel, die der Gebrauch ausgebildet hat, ist von ungemeiner Kurzlebigkeit. Und wenn man auch mit nicht gelindem Schreck bilanzieren muss, dass keines der nicht selten großsprecherischen Gegenentwürfe realisiert worden ist, hat es dem Designer- und Architektentrotz wider die Banalität der Formentradition doch keinerlei Abbruch getan. Dass Mies van der Rohes heute museumswürdiges „Farnsworth House“ in Illinois von der Bauherrin nach wenigen Monaten wegen Unbewohnbarkeit verlassen worden ist, hat dem Ruf des Meisters nicht geschadet.

Noch immer stehen ja die Breuer-Sessel aus Stahlrohr und Leder bei uns im Wohnzimmer – auch wenn sie den Altersrücken spürbar lästig geworden sind. Man hat einfach gelernt, dass es Architektur, Design und vielleicht auch Kunst mit Gegenständen zum disziplinierenden Gebrauch zu tun hat. Und „Schöner Wohnen“ mit jener unsterblichen Lust am Freiflug der Gedanken, während draußen der Nachkriegsbeton für Milliarden saniert werden muss – oder asbestverseucht entsorgt, wie der berühmt-berüchtigte Tokioter Kapselturm. Für die Kunsthalle Tübingen wurde eines der Wohnmodule als Dauerleihgabe angekauft.

„Schöner Wohnen. Architekturvisionen von 1900 bis heute“, bis zum 19. Oktober 2025, Kunsthalle Tübingen

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