Wer von der Schweiz her anreist, sieht sie schon von Weitem. Und spätestens im kleinen Besucherzentrum, wo es die üblichen Memorabilia wie Stifte, Magnete, Notizhefte und Poster zu kaufen gibt, wird einem klar: Hier ist man an einem international bekannten Pilgerort angekommen. In acht Sprachen – darunter Koreanisch und Japanisch – wird man darauf hingewiesen, was man tun darf und besser unterlassen sollte.
Von erstaunlicher Intimität
Die Rede ist von der Kapelle Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp, tiefe französische Provinz. Von aussen wirkt sie grösser, als man denkt. Dies liegt vor allem am riesigen Schalendach, dessen Form von einem Krabbenpanzer inspiriert sein soll. Im Innern hingegen strahlt der Bau trotz seiner Kargheit eine erstaunliche Intimität aus. Und wenn die Sonne durch die verspielten farbigen Fenster scheint, wirkt die Kapelle warm und einladend.
Der Hügel von Bourlémont, auf dem die berühmte Kapelle steht, ist ein alter Wallfahrtsort. Im 11. Jahrhundert wird er erstmals schriftlich erwähnt, auch Kirchenbauten sind verbrieft. Der Letzte von ihnen wurde 1944 während der Kämpfe zwischen deutschen und französischen Truppen fast vollständig zerstört. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde eine Stiftung gegründet mit dem Ziel, eine Kapelle im modernen Stil zu errichten.
Ein Bau, der verärgert – und erfreut
Bauen sollte diese neue Kapelle der schweizerisch-französische Architekt Le Corbusier. Er, der sich nicht sonderlich für Religion interessierte, und die Vertreter der Stiftung waren ein ungleiches Gespann. «Niemand auf dem Land wusste damals, wer Corbusier war», erzählt der heutige Präsident der Stiftung, Jean-Jacques Virot. Corbusier reagierte indirekt darauf: Er kreierte einen Bau, der total anders war als alles andere, was er bis dato gebaut hatte.

«Die Architekten, Akademiker und Intellektuellen waren sehr verärgert. Sie erkannten in diesem Gebäude keines jener Prinzipien, die Corbusier entwickelt hatte – etwa jene in seiner Arbeit über das Logis, über die Art des Wohnens, über die Zukunft der Stadt», sagt Jean-Jacques Virot. «Für Leute, die wenig von Architektur verstanden, war es jedoch ganz anders. Viele nahmen dieses Werk, das völlig neu war, überraschend positiv auf.»
Einzigartiges Gebäude für eine «tote Institution»
Corbusier, der nie zuvor eine Kirche gebaut hatte, ergriff die Gelegenheit, an diesem historischen Wallfahrtsort «die Menschen mit dem Kosmos zu verbinden», wie er später schrieb. Eine erstaunliche Aussage für jemanden, der die römisch-katholische Kirche auch gerne als «tote Institution» bezeichnete.
Doch Corbusier war fasziniert von der Landschaft, erzählt Virot. Eine Landschaft, die er aus seiner Kindheit kannte. Aufgewachsen in La Chaux-de-Fonds, durchstreifte er gerne die Hügelzüge des Juras, zusammen mit seinem ersten Lehrmeister, dem Maler, Architekten und Erfinder der Schweizer Version des Jugendstils Charles L'Eplattenier.
Und so schuf der Autodidakt Le Corbusier in Ronchamp einen einzigartigen Sakralbau, der 2016 Unesco-Welterbe wurde, und auch 70 Jahre nach seiner Eröffnung «intemporelle» – zeitlos – wirkt.
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