Irgendwie kamen diese „Letzten Tage der Menschheit“ dem so bedeutenden Opernfestival von Aix-en-Provence abhanden. Über die Gründe kann der kürzlich verstorbene Aix-Intendant Pierre Audi nicht mehr aufklären. Und auch an der koproduzierenden Oper Köln musste das monumentale Antikriegs-Musiktheater wegen der notorisch verschobenen Fertigstellung der Spielstätte jetzt für die fast techniklose Breitwandbühne im Dauerersatzquartier Staatenhaus noch einmal neu konzipiert werden.
Doch das macht nichts. Bereits bei der Generalprobe konnte dieses Fanal aus den Weltkriegsgräben Kakaniens als agitatorisches Massenmusiktheater aufrütteln. Zwar ist das von Karl Kraus in sieben Schreibjahren entstandene Stück eher Lesedrama: 220 Szenen, die an 137 Schauplätzen 1114 Rollen aufbieten, müssen für jede Inszenierung brutal zusammengestrichen werden.
Aber auch der Torso, der gewaltig viele Menschen und Maschinen aufbietet, nimmt einen in jeder Hinsicht mit – zumindest in der ersten Hälfte, die knapp zwei Stunden dauert. Komponist Philippe Manoury und Regisseeur Nicolas Stemann gehen dabei fast brechtisch episch vor. Das Gürzenich-Orchester unter dem souverän koordinierenden, ein scharf konturiertes Klangpanorama entfesselnden Peter Rundel ist auf drei den Raum gliedernde Podien verteilt.
Links und rechts stehen LED-Wände. Hinten, zwischen den Säulen, werden kleine Tücher als Bildflächen heruntergelassen, auf denen sich der Videostrom immer mehr verdichtet. Die anfängliche Proklamationsanordnung mit zwei Schauspielern für das „Thingspiel = Singspiel“ (Patrycia Ziolkowska, Sebastian Blomberg) wird immer mehr durch Soldaten, Leidtragende, Mitläufer abgelöst, die alle in den Mahlstrom des sinnlosen Kämpfens hineingerissen werden.
Im zweiten Teil wird es banal
Das sieht und hört sich altmodisch an, geht aber auf. Manoury zitiert nicht, aber erinnert in seinen opulent-schroffen Klängen an Wagner, Strauss, Schönberg, Bartók. Man ist als Zuschauer ganz direkt im Konzert der Instrumente und Stimmen der zwölf, in diversen Rollen vielbeschäftigt hingebungsvollen Sänger. Über denen strahlt fahl und fanalhaft, betörend und berührend als greisenhafter Angelus Novus im verschlissenen Brautkleid die inzwischen 70-jährige Anne Sofie von Otter.
Leider verläppert sich das alles in der knapp einstündigen zweiten Hälfte. Als wollten die Autoren ihr schlechtes Gewissen beruhigen, auf allzu aktuelle Konflikte durch das Prisma und Brennglas der Vergangenheit zu schauen, wird es plötzlich oratorienhaft fad, woke und pseudotrendig banal. Die Akteure stellen ihr Tun („Was kann schon die Oper gegen den Krieg ausrichten?“) infrage, der Chor klagt voller Pathos. Die Partitur wird jetzt elektronischer, die Bläser liefern blässlichen Surround-Sound von hinten. Auf den Videowänden erscheinen Tarnkappenbomber und Atomblitze. Vorher freilich war das Erinnerungsdrama aus dem Ersten Weltkrieg als Ende einer Epoche und als soziales Untergangsszenario um vieles stärker. Im Sommer steht das Kraus-Stück übrigens auch in Salzburg auf dem Festivaltheaterspielplan.
München glänzt mit Mozart
Festspiele sind jetzt auch wieder in München. Seit 1875 (gestartet ein Jahr vor Bayreuth) finden sie statt. Damit sind sie die ältesten ihrer Art. Als touristische Attraktion zu erhöhten Preisen, weil die gebündelten Repertoirevorstellungen der Staatsoper mit ein paar Stars extra garniert werden. Auf den Säulen Mozart, Wagner und Strauss ruhend, gibt es bei den Münchner Festspielen zum Saisonende traditionell noch zwei Premieren.
Eröffnet wurde mit Mozarts „Don Giovanni“, die E.T.A. Hoffmann einst als „Oper aller Opern“ geadelt hat. Und Zeit war’s: Seit der berühmten Rennert-Inszenierung von 1973 mit dem bis heute legendär virilen Ruggero Raimondi als düster-erotischem Frauenverführer gab es hier 1994 und 2009 zwei gescheiterte, schnell wieder verschwundene Neuproduktionen.
Und Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski wie dem debütierenden Regisseur David Hermann gelingt die beste Neuinszenierung einer Repertoireoper seit Langem am Haus.
Dabei hat gerade der mythosbeladene, so komisch-tragische „bestrafte Wüstling“ in den vergangenen Jahrzehnten viel Deutungsfedern lassen müssen. Aus dem spanischen Granden ist längst ein weinerliches Würstchen geworden, ein impotenter Vergewaltiger, ein mieser MeToo-Täter. Was sich dann in modisch-achtsamen Deutungen meist nicht mit dem jenseitigen Schluss als Höllenfahrt verbinden ließ. In München schon.
Denn Jurowski, bekannt für einen kantigen, schroffen, auch langsam-lauernden, dabei durchaus historisch schlank informierten Mozart-Zugang, bezieht sich auf einen Satz im Epilog-Sextett der ohne ihn freilich sehr gewöhnlichen Überlebenden, die den schändlichen Schurken und Verbrecher bei „Pluto und Proserpina“ im heidnischen Hades vermuten.
Die griechischen Götter der Unterwelt spielen deshalb hier von Anfang an als fegefeuerrote Albinos zwischen Digitallava und Videorausch etwas commedia-haft mit. Ganz im Gegensatz zum graukarg-modernistischen, geschickt wandelbaren Einheitsbühnenbild, in dem klar skizzierte Menschen von heute in psychologisch verästelter Feinzeichnung vorgeführt werden.
Todesmahl als Augenschmaus
Für bösen Witz sorgt etwa das Standesamt, in dem die rasende Donna Elvira (dramatisch: Samantha Hankey) die Hochzeitsgesellschaft von Zerlina (reif und aufmuckend: Avery Amereau) und Masetto (ordentlich: Michael Mofidian) durcheinanderwirbelt, während der resolute Leporello (Kyle Ketelsen) die Liste seiner Registerarie aus dem Wartenummernspender zieht – und die Digitalzahlen rasen. Mit edel-raffinierten Kostümen von Sibylle Wallum sind der Ball und das Todesmahl als Augenschmaus arrangiert.
Don Giovanni, sehr nah- wie identifizierbar in Gestalt des weichstimmigen, erst 32-jährigen Bravourbaritons Konstantin Krimmel, ist freilich von Proserpina besessen, die mutwillig in ihn hineinfährt. So sträubt sich die Göttin im Manne gegen den Sex mit der sehr willigen Donna Anna (bisweilen spitz, aber stark: Vera-Lotte Boecker), die Giovanni ins Schlafzimmer lockte und dann gegenüber ihrem Verlobten Don Ottavio (koloraturgewandt: Giovanni Sala) ein schlechtes Gewissen hat. Auch den Tod des Komturs (basshart: Christof Fischesser) verursacht Pluto. So ist der Verführer zunächst schuldfrei, doch bei Zerlina wie der Zofe Elviras gewinnt letztlich doch Testosteron über Östrogen: Die Proserpina-Farbe wird weniger. Und am Ende krallt diese sich sowieso Masetto als nächstes Männerspielzeug.
Auch wenn es anfänglich musikalisch etwas durchhängt, die Inszenierung in ihrer Bestrafung des gar nicht so Bösen ist so keck wie konservativ – so müssen Festspiele gehen. Musiktheatergenuss der außergewöhnlichen Art. So wie bereits in ein paar Tagen hoffentlich auch in Aix-en-Provence. Wo man, ebenfalls Tradition, wieder mal mit „Don Giovanni“ beginnt. Mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Simon Rattle und Andrè Schuen in der Titelrolle. Der Wettbewerb startet, die Festspielsaison hat begonnen.
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