Deutschland war während des Zweiten Weltkrieges – neben vielem anderen Grässlichen – auch ein großes Gefangenenlager. Millionen von Soldaten aus Ländern der Kriegsgegner wurden ins Reich deportiert und unter sehr unterschiedlichen Bedingungen inhaftiert. Allein von den 5,5 Millionen russischen Gefangenen überlebten gut drei Millionen die Haft nicht – ein gern verdrängter Genozid durch die Nationalsozialisten, die durch gezieltes Aushungern, medizinische Vernachlässigung, katastrophale Unterbringung und direkte Ermordungen die russischen Häftlinge grauenvoll dezimierten.
Diesen „vergessenen Holocaust“ kann man – im Kontrast zur recht zivilisierten Behandlung westlicher Kriegsgefangener – nun in einer einzigartigen musealen Gedenkstätte erkunden: der „Französischen Kapelle“ in Soest.
Das neue Museum für Zeitgeschichte sichert für die Nachwelt ein außergewöhnliches historisches Dokument aus der Zeit der „Stalags“: eine komplett von Kriegsgefangenen ausgemalte, provisorische Kapelle, in welcher die Häftlinge von 1940 bis 1945 katholische Messen feierten, wo aber auch in einer Art Lageruniversität wissenschaftliche Vorträge gehalten wurden. Allein schon die Historie dieser Gefangenenkirche unterm Dach erzählt Maßgebliches und oft Verdrängtes vom traurigen zwanzigsten Jahrhundert in Deutschland.
Das Gebäude des „Mannschaftsstammlagers VI E“ wird im Sommer 1939 als Kaserne hochgezogen, doch die unfertigen Baracken unter einem klobigen Wachtturm aus Bruchstein dienen ab Kriegsbeginn zur Unterbringung, meist von Offizieren gegnerischer Mächte. Erst sind es Polen, dann Niederländer und Belgier; ab August 1940 landen rund 1300 französische Militärs in dem großen Kasernengelände am Soester Stadtrand. Später werden es immer mehr Häftlinge.
Zuerst lassen die Bewacher die 32 Priester unter den Häftlingen in der Mansarde die Messe lesen. Bald darauf gibt es eine Genehmigung und Material für eine künstlerische Ausgestaltung, weil sogar die Nationalsozialisten sich angesichts der westlichen Alliierten an die Genfer Konvention hielten, welche gefangenen Offizieren arbeitsfreie Haft mit Möglichkeiten zu kultureller und religiöser Selbstbestimmung verspricht.
Wie in der Bauhütte einer französischen Kathedrale bestimmt ein Theologe, der Priester René Viellard, die Ikonografie; die beiden Künstler Guillaume Gillet sowie René Coulon, die bereits in der Vorkriegszeit zusammengearbeitet haben, übernehmen die Ausgestaltung. Pünktlich zu Weihnachten 1940 wird die Kapelle mit dem – neben Maria – überaus treffenden Patron „Petrus in Ketten“ geweiht und den gesamten Krieg hindurch als Andachtsraum genutzt.
Die Bilder erzählen in einer eigentümlich improvisierten Stilmischung aus Klassizismus und neomittelalterlicher Naivität vom Patriotismus der Insassen, aber auch von Trauer und Heimweh, die durch die bunte Farbgebung keineswegs abgemildert werden sollte. Eine klassische Pietà zeigt die Muttergottes mit ihrem toten Sohn und erinnert damit an die gefallenen Kameraden, die es gar nicht erst ins Gefangenenlager geschafft hatten. Rundherum evozieren die Gemälde die Taten der christlichen Barmherzigkeit mit einem Schwerpunkt auf allen Aspekten von Gefangenschaft. Hinter dem Altar wird der auferstandene Heiland umringt von urfranzösischen Heiligen wie der Jungfrau von Orléans, Vinzenz von Paul oder dem Heiligenkönig Louis IX. Der glühende Rost des heiligen Laurentius wurde direkt über dem einzigen Heizkörper gemalt und zeugt von skurrilem Humor im Leid. Denn die primitiven, bis heute offenen Leitungen lassen erahnen, dass es in der Kapelle wie auch in den zugigen Mannschaftsräumen keineswegs behaglich zuging.
Ihr Meisterwerk freilich haben Gillet und Coulon, die nach dem Krieg als Architekten und Designer Karriere machten, mit einer fantastischen Karte Frankreichs abgeliefert, vor welcher sie sich in altmeisterlicher Manier gemeinsam mit dem Priester Viellard in Gebetshaltung selbst porträtieren. Das ferne Mutterland markieren sie mit zahlreichen Heiligenfigürchen, jeweils am Ort ihres Wirkens oder ihrer Verehrung, als sakrales Territorium. Auch nach Korsika, nach Nordafrika und nach Amerika lassen die Künstler einfache Boote, Segelschiffe und sogar eine moderne Fregatte übersetzen, um die damaligen Kolonialgebiete einzubeziehen und die kulturelle Mission ihres Vaterlandes zu verewigen, wie man sie damals verstand. Doch wären die Künstler keine Franzosen gewesen, hätten sie markante Landschaften wie das Bordelais, Burgund oder die Champagne nicht mit ihren berühmten Weinflaschen im Bild markiert – edle Tropfen, von denen die heimwehkranken Kriegsgefangenen über vier Jahre lang nur träumen konnten.
Heute ist der Erhaltungszustand der Gemälde großartig, allerdings erst wieder nach einer gründlichen Restaurierung, die durch private Paten aus Deutschland und Frankreich ermöglicht wurde. Werner Liedmann, Vorsitzender des Trägervereins, erzählt, dass die Rettung der Kapelle ebenso wie die Einrichtung des Museums mehrmals am seidenen Faden hing, weil Geldmittel fehlten, während die übrigen Kasernengebäude von Investoren in Wohnungen umgebaut wurden.
Jugendraum mit Tischtennis
Dass dieser einzigartige Raum überhaupt erhalten blieb, grenzt angesichts seiner späteren Geschichte an ein Wunder. Nachdem die letztlich 5000 Gefangenen Anfang April 1945 endlich befreit wurden, kamen „Displaced Persons“, meist heimatlose Zwangsarbeiter, im Lager unter, bis 1946 Tausende von schlesischen Flüchtlingen unter primitiven Bedingungen eingewiesen wurden. Während sie auf Strohbetten und zwischen Laken, die über Wäscheleinen gespannt wurden, ebenso auf Privatheit verzichten mussten wie zuvor die französischen Offiziere, verwandelte man die Kapelle in einen Jugendraum mit Tischtennisplatte. Das erneute Lagerleben mit vielen Frauen und Kindern fand ein abruptes Ende, als 1951 belgische Besatzungstruppen die nun doch als Kaserne genutzten Blöcke für sich reklamierten und den Komplex nach dem Widerstandskämpfer Colonel Adam benannten, den die Gestapo während des Krieges ermordet hatte.
Über Jahrzehnte wurde die ausgemalte Kapelle zum Lagerraum, erst gegen Ende der 1980er-Jahre diente sie wieder religiösen Zwecken. Nach dem Abzug der belgischen Soldaten 1994 dauerte es noch einmal 30 Jahre, bis dieses Relikt der Zeitgeschichte restauriert und gemeinsam mit den archäologischen Funden der Nachkriegszeit – man warf den Schutt der Lagerzeit wahllos in Gruben – nun als Museum genutzt werden kann. Dabei bleibt der sakrale Charakter der Räumlichkeiten erhalten; regelmäßig gibt es ökumenische Gottesdienste, und man kann sogar private Taufen oder Hochzeiten unter den rührenden Fresken aus der Kriegszeit abhalten.
Vom fromm-patriotischen Geist der Wandgemälde und von der damaligen Nutzung als „Lageruniversität“ sollte sich indes kein Besucher täuschen lassen. Zwar wurden die Insassen nicht gefoltert und getötet wie andere Kriegsgefangene oder KZ-Insassen, doch von einem idyllischen Überleben waren die Umstände mit Ungeziefer, Hunger, Demütigungen und Perspektivlosigkeit weit entfernt. Der französische Schriftsteller Georges Hyvernaud, der gleichfalls im Soester Stalag inhaftiert war, hat in seinem Kurzroman „Haut und Knochen“ (übersetzt in der Bibliothek Suhrkamp) ein drastisches Bild vom Gestank und vom Stumpfsinn der verlorenen Jahre gezeichnet: „Wir sind zu einer endlosen, regungslosen Fahrt verurteilt, zu einer langen Reise durch die Zeit ohne Ziel, durch die Zeit, die wie das Meer ist, immer gleich, immer anders, steril und kahl.“
Während Hyvernaud, dessen Werke über Jahrzehnte in Frankreich vergessen waren, großartig die Entmenschlichung von Individuen auf den Latrinen und das langsame Verrücktwerden reflektiert, schildert er nebenbei einen makabren Anblick: Die französischen Offiziere beobachten das Sterben der russischen Soldaten, die ein paar Meter weiter langsam zu Tode gehungert werden und deren Leichenkarren von ausgemergelten Kameraden und unter den Augen gut gelaunter deutscher Wächter zu den Massengräbern geschleppt werden. Direkt neben den Franzosen gab es in Soest auch ein Lager für russische Häftlinge, die oft unter dem Bombenhagel zu Bauarbeiten gezwungen und ansonsten systematisch beseitigt wurden. Auch von den namenlosen russischen Häftlingen ist nun im Erinnerungsort der Französischen Kapelle die Rede. Der Trost von Gemälden oder Gottesdiensten wurde diesen Häftlingen nie zuteil.
Die Französische Kapelle und das Museum für Zeitgeschichte in Soest sind jeweils an zwei Sonntagen im Monat zu besichtigen. Die aktuellen Öffnungszeiten finden sich auf der Website „franzkapellesoest.de“.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.