Dass ein Sommerurlaub Katalysator für komplizierte Gefühle sein kann, wissen wir spätestens seit Françoise Sagans „Bonjour Tristesse“ und Jacques Derays „Swimmingpool“. Auch hier hängt das Unheil dräuend wie ein Sommergewitter über Familienbanden und erotischen Spannungen. Wer lange genug am Strand in der prallen Sonne liegt, bis der Schweiß am Körper herunterrinnt, kennt dieses Gefühl: Die Luft ist so dick und warm, dass sie sich übermächtig und erdrückend anfühlt. Steigert man sich hinein, meint man fast zu ersticken, wenn man nicht gleich ins Meer läuft und sich abkühlt. Die Hitze frisst einen förmlich, während vorn die Wellen rauschen und hinten die Zikaden zirpen.

Diese Sommer-Kulisse hat Deborah Levy wohl nicht zufällig für ihren Roman gewählt, in dem es um Familie, Verdrängung und Verpflichtungen geht. So ist der Titel dann auch „Hot Milk“. Muttermilch also, die einen verbrennt, anstatt zu nähren. Auf ihrem Buch basiert der gleichnamige Film der Britin Rebecca Lenkiewicz, der jetzt ins Kino kommt.

Die Ausgangslage ist hier jedoch noch komplizierter als in den französischen Pendants. Die Reise einer Mutter und ihrer Tochter an die südspanische Küste Almerias ist kein einfacher Sommerurlaub, sondern eine letzte Hoffnung. Rose, die Mutter, gespielt von Fiona Shaw, sitzt im Rollstuhl, seit ihre Tochter Sofia (Emma Mackey) vier Jahre alt ist. Seitdem kümmert sich die Tochter um die kranke Mutter, ist also nicht länger nur Kind, sondern Pflegerin. Rose hat ihr Haus in England verkauft, um in einer Spezialklinik von ihren Schmerzen geheilt zu werden.

Die Klinik von Dr. Gomez (Vincent Perez) verfolgt einen modernen Ansatz und arbeitet ganzheitlich. Heilung soll nicht nur durch Physiotherapie erfolgen, sondern Hand in Hand mit einer Gesprächstherapie gelingen. Die Idee: Geist und Körper sind so eng verknüpft, dass sich Traumata in unseren Muskeln, Fasern und Knochen abspeichern und zu Krankheiten führen können. Wer körperlich heilen will, muss dies also auch seelisch tun – und dafür ordentlich Geld bezahlen. Die Behandlung kostet die verzweifelte Frau ein kleines Vermögen.

Triggerpunkte

Der Umzug ans Meer ist nicht nur die letzte Hoffnung der Kranken, sondern auch die ihrer Tochter Sofia. Die ist Anfang zwanzig und hat ihr Anthropologie-Studium unterbrochen, um ihre Mutter zu begleiten. Überhaupt scheint ihr Leben zu stagnieren, solange sie sich um ihre Mutter kümmern muss. Denn die stellt viele Ansprüche: Das Wasser schmeckt ihr nicht, also soll die Tochter eine andere Marke kaufen. Sofia bekocht sie, bringt sie ins Bett und leistet ihr Gesellschaft. Dabei lässt die Mutter immer wieder spitze Bemerkungen fallen. Die Tochter sei seit ihrer Geburt schon so und so gewesen, die Nützlichkeit ihres Studiums zudem ein Rätsel. Rebecca Lenkiewicz zeigt die Dynamik einer missbräuchlichen Familienbeziehung.

„Hot Milk“ ist das Regie-Debut der Britin, das auf der diesjährigen Berlinale seine Premiere feierte. Vorher arbeitete Lenkiewicz hauptsächlich als Drehbuchautorin, darunter für bekannte Produktionen wie die Verfilmung der Weinstein-Affäre „She Said“ und „Der Salzpfad“ mit Gillian Anderson, der in Deutschland im Juli in die Kinos kommt.

Mit diesem Film ist ihr ein interessantes Debut gelungen. Was Lenkiewicz und vor allem ihrer Hauptdarstellerin Emma Mackey wunderbar transportieren, ist die Sprachlosigkeit in eingerasteten Familienbeziehungen, irgendwo zwischen Wut, Frust und Pflichtgefühlen. Darin die immerwährenden Fragen, was wir unseren Eltern schuldig sind und wann Fürsorge zur Selbstaufgabe wird. Wie viel muss man für einen Generationenvertrag zahlen, für den man sich selbst nicht entschieden hat? Wer muss zuerst loslassen?

Immer wieder geht Sofia stoisch über Kommentare ihrer Mutter hinweg, die sie offensichtlich verletzen. Abrupt steht sie vom Küchentisch auf oder wechselt die Handlung, um ihre Gefühle zu kontrollieren. Ohne eine Miene zu verziehen, lässt Mackey mit ihrer Körperspannung ahnen, dass hier die immergleichen Reizpunkte getroffen werden. Die Sticheleien scheinen ebenso routiniert, wie das Schweigen, das auf sie folgt. Doch auf die langen Ruhephasen Sofias folgen immer wieder kurze, aber dafür gewaltige Ausbrüche. Dann bedroht sie den Nachbarn, der seinen Hund in der prallen Sonne anbindet mit einem Messer, oder zerschmettert ein Glas auf dem Küchenboden, als sie das Jammern der Mutter nicht mehr erträgt. Wenig später jedoch fegt sie pflichtbewusst die Scherben auf.

Amazonen am Strand

Lenkiewicz hat ein Frauenuniversum geschaffen, in dem Männer nur Nebenrollen spielen. Da ist der abwesende Vater, der inzwischen eine neue Familie in Griechenland hat, der Arzt und der Geliebte der Geliebten. Ansonsten dominieren Frauen und diese Käseglocke der unausgesprochenen Gefühle. So auch die Sommeraffäre, die Sofia am Strand in bester Amazonen-Manier kennenlernt. Auf einem weißen Pferd und mit wehendem Kopftuch kommt sie angeritten, der Freigeist aus Düsseldorf. Es sind diese Momente, die dem Film etwas von seiner Tiefe nehmen. Doch auch in dieser überzeichneten Figur steckt eine Erkenntnis darüber, wie wir uns selbst manipulieren.

Sofia verliebt sich nämlich in diese willkommene Ablenkung, nur um sich bald im gleichen Muster wiederzufinden: Auch die wilde Ingrid (Vicky Krieps) hat ein Trauma und verschafft sich durch Sofia Erleichterung. Die muss hingegen wieder für jemanden da sein, wieder jemanden trösten. „Du bist ein Monster, Sofia“, sagt die Geliebte ihr immer wieder halb im Scherz, obwohl es Ingrid ist, die wie selbstverständlich mit anderen schläft und ihre Probleme bei Sofia ablädt. Gaslighting nennt man so ein Verhalten im modernen Beziehungssprech und toxisch sowieso. Die neue Liebe gleicht also Sofias Mutter, bei der man nie so genau weiß, wie krank sie eigentlich wirklich ist. Es ist der Fluch der Anziehungskraft des Immergleichen. Mit dem Fahrer des Fluchtwagens entspinnt sich am Ende genau die Dynamik, vor der Sofia davongelaufen ist.

Dem Drama gelingt die Darstellung vom Hadern mit Pflichtgefühlen und mit der Schuld gegenüber den Eltern. Sowohl Fiona Shaw überzeugt als überbordende Mutter, die sich in Selbstmitleid und Verdrängung eingerichtet hat, als auch Emma Mackey, als überforderte Tochter, die an ihren blockierten Gefühlen zu implodieren droht. Die flirrende Hitze – gedreht wurde im August in Griechenland – gibt dem Film und den Gefühlen der Figuren dabei etwas Transzendentales, das den Zuschauer zweifeln lässt, was denn jetzt wahr ist und was sich nur in den erhitzten Köpfen entspinnt. Am Ende ist „Hot Milk“ eine Horrorgeschichte über das Unterdrückte in uns und welche dunklen Blüten es treibt. Sei es in Körper, oder Seele.

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