Beginnen wir mit dem Altglas-Paradox. In meiner Straße in Berlin-Prenzlauer Berg stehen nebeneinander vier Glas-Container: je einer für Braunglas und Grünglas und zwei für Weißglas. Eigentlich simpel. Dennoch gibt es offenbar eine Menge Glas, das für ihre Besitzer offenbar eine undefinierbare Farbe hat und einfach neben die Behälter gestellt wird, einzeln oder in ganzen Kartons, vielleicht im Glauben, ein nachfolgender Altglas-Recycler sei intellektuell eher in der Lage, die Farben korrekt zuzuordnen.

Auf den Containern selbst und davor liegen Dutzende Deckel und Verschlüsse, aus Plastik oder Metall. Warum sind grundsätzlich umweltbewusste Menschen, die ihr Glas entsorgen, nicht auch noch bereit, die Deckel in eine gelbe Tonne zu werfen? So häufen sich die Konservendosendeckel an, breiten sich wie ein Ausschlag über den Bürgersteig aus, bis der ganze Raum um die Container wie eine Sondermülldeponie aussieht.

Hundekot und Leihroller

Immer öfter ertappe ich mich selbst bei Spießergedanken, die ich früher ausschließlich bei schwäbischen Eigenheimbesitzern verortet hätte: Wie das hier wieder aussieht! Können die nicht ihren Dreck wegmachen? Die Flaschen an der Straßenecke, den Hundekot auf dem Gehweg, die Chipstüten auf dem Spielplatz, die Pizzakartons auf der Parkband, den Sperrmüll vor dem Haus? Und was ist mit den Leihrollern, die überall im Weg liegen?

Dieser mir selbst unsympathische Spießerblick hat auch mit meinem Kind zu tun. Als es neulich im Park stolperte und sich Knie und Hände aufschürfte, stellte ich fest, dass die gepflasterten Wege inzwischen mit kleinsten Glasscherben übersät sind. Wenn wir am Wochenende auf den Bolzplatz gehen, muss ich dort Bierflaschen entsorgen. Der öffentliche Raum ist überzogen mit einer Haut aus Müll, mal unübersehbar wie die alten Fernseher und Lattenroste, mal fein verteilt und zu kleinen Fetzen und Splittern zermahlen.

In allen deutschen Großstädten wird heute über die Vermüllung des Stadtraums debattiert, ob in Hamburg, Stuttgart, Frankfurt oder eben Berlin. Von „zunehmendem Wegwerfverhalten“ ist da die Rede; die Abfallwirtschaftsbetriebe sind überfordert. Das Krasse ist ja: Parks und die Gehwege etwa werden regelmäßig gesäubert, und sie sehen trotzdem so aus.

Am schlimmsten fällt das logischerweise am Sonntagabend auf, bevor die Teams der Stadtreinigung am frühen Montagmorgen ihre Arbeit beginnen, von denen viele gar nichts mitbekommen. Man muss nicht gleich auf eklige Extremfälle schauen, wie die Rattenplage, die in der Hauptstadt akut den Hermannplatz in Neukölln befallen hat.

In Pankow, einem durchweg bürgerlichen Bezirk, hat die für Ordnung zuständige Stadträtin Manuela Anders-Granitzki (CDU) anlässlich der notorischen Hundekot-Verschmutzung gerade eine Art Kapitulationserklärung abgegeben: Es gebe zu wenig Personal für wirksame Kontrollen, vor allem aber würde eine „Verbesserung des Status Quo“ im öffentlichen Raum „durch ein Übermaß an rücksichtslosem Verhalten und Desinteresse den Erhalt eines gepflegten und für alle nutzbaren (Wohn-)Umfelds verhindert“, so wird sie im „Tagesspiegel“ zitiert.

Entschuldigen Sie, ist das der Sondermüll in Pankow? Ein morgendlicher Spaziergang durch den zum Bezirk gehörenden Mauerpark reicht, um zu verstehen, was gemeint ist: Das Ordnungsamt kann nicht für Ordnung sorgen, wenn die Bürger nicht mitmachen.

In den 90er-Jahren wurde in den USA ein gesellschaftstheoretischer Ansatz populär, der als „Kommunitarismus“ bezeichnet wurde, der die Bedeutung allgemein geteilter Werte und eines Engagements für das Gemeinwesen ins Zentrum stellte. Das richtete sich auf gegen einen radikalen Liberalismus, der auf individuelle Freiheitsrechte pochte, von Pflichten des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft aber nichts wissen wollte.

Auch in Deutschland wird der Wert freiwilligen sozialen Engagements wieder bewusst, etwa beim Ehrenamt. In der frühen Corona-Zeit gab es Ansätze zu einer neuen sozialen Verantwortung, ein Bewusstsein für den Wert von Nachbarschaftshilfe und Hausgemeinschaft etwa, eine wachsende Aufmerksamkeit für die schwachen Glieder in der Kette des alltäglichen Zusammenlebens.

Inzwischen aber geht die Entwicklung wieder in die andere Richtung – von den personell ausgezehrten Vereinen bis zur mutlosen Debatte über die Wehrpflicht. Da ist es konsequent, wenn die Bürger die Ursachen aller Probleme beim Staat suchen: bei der Kommune, der Bundesregierung, „der Politik“. Natürlich kann man auch beim Müll und Hundekot immer mehr Kontrollen fordern, härtere Strafen, eine Null-Toleranz-Haltung.

Sinnvoller wären Bürgerpatenschaften für Parks, Nachbarschaftsinitiativen, öffentliche Aufräumaktionen, „Ramadama“, wie man so was in Bayern nennt, oder den guten alten „Subbotnik“, den viele Ostdeutsche noch kennen. Bei dem Projekt „Adopt-a-Street“ in den Niederlanden etwa übernehmen Anwohner Patenschaften für Straßen. Ansätze dazu gibt es auch in Deutschland, etwa die Aktion „Hamburg räumt auf“ oder eine lokale Initiative am Weinsbergpark in Berlin-Mitte.

Denn man muss nur auf die eigene Straße schauen, um sehen, dass es einen grundsätzlichen Einstellungswandel braucht. Das Selbstverständnis, Teil eines Ganzen zu sein. Die Erkenntnis, dass nicht der Staat nicht nur aus Behörden und Institutionen besteht, sondern aus uns allen.

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