„Wir leben in einer Welt, die zu zwei Dritteln Hölle ist, einerlei, ob wir diesen Zustand mit den Augen Spenglers oder E. Jüngers betrachten, die beide tief geblickt haben. Zum Bestehen der höllischen zwei Drittel brauchen wir die verfluchten Mittel der Hölle, die Hornhäute, Panzer, Gasmasken, vor allem aber die immer erneute Zuflucht des dritten Drittels, das aus allem besteht, was uns inmitten der Verödung noch an Naturnähe, aber auch an geistiger Nahrung und geistigem Genuss geblieben ist.“
Ja, so voller Trost und Bewusstsein für den Wert des Eskapismus gegenüber den Zumutungen der Welt konnte nur ein deutschsprachiger Schriftsteller Briefe schreiben: Hermann Hesse, der bis heute zu den meistgelesenen Autoren der deutschen Sprache gehört und 1946, als Schweizer, den Literaturnobelpreis bekam. Rekordverdächtige 26.000 Briefe hat Hesse in seinem 85-jährigen Leben (1877 bis 1962) verfasst. Sein Briefwerk dürfte eines der umfangreichsten der Literaturgeschichte sein.
Hesses Briefe, neunte Lieferung
Volker Michels, langjähriger Hesse-Lektor, gibt die Briefe seit 2012 in einer zehnbändigen Werkausgabe heraus. Der aktuelle neunte Band der Edition umfasst Hesses letzte Lebensjahre von 1958 bis 1962. Der Autor von inzwischen weltberühmten Werken wie „Siddhartha“, „Der Steppenwolf“ und „Das Glasperlenspiel“ ist gerade 81 geworden, und muss mit allerlei Zumutungen fertig werden. Seine Geburtsstadt Calw will ein Museum für ihn einrichten, das behagt dem Schriftsteller gar nicht, und so lässt er den Bürgermeister wissen: „Was die geplante Hesse-Stube angeht, so würde ich raten, auf sie nicht allzuviel Gewicht zu legen. Ich stehe am Ende des Lebens, und Sie werden sich wundern, wie schnell nach meinem Tode die Vergessenheit eintritt und mein Name die Werbekraft verliert.“ Wie Hesse sich da mal täuschen sollte. Je älter, desto berühmter ist er weltweit geworden, vor allem in Asien und in den USA, wo mit der Hippie-Bewegung später sogar eine regelrechte Hesse-Welle einsetzt.
Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ hat Hesse zum 81. Geburtstag ein maliziöses Geschenk gemacht und ihn mit Strohhut aufs Cover gehoben: Das Image des literarischen Kleingärtners wird Hesse posthum nie wieder los, doch das ficht ihn nicht an. Häme und Anfeindungen aus Deutschland ist er gewohnt: „Schmähartikel, Verleumdungen und Drohbriefe aus Germanien habe ich in früherer Zeit in solcher Menge bekommen, dass ichs nicht mehr spüre.“ Einen dahingehenden Panzer musste sich Hesse nämlich schon im Ersten Weltkrieg zulegen, als er wegen seines Pazifismus als „vaterlandsloser Geselle“ attackiert wurde.
Sind Korrespondenzen ganz allgemein eine der besten Möglichkeiten, um historische Persönlichkeiten und Zeiten auf anschaulichste Art kennenzulernen, gilt das für Hesse ganz besonders. Unter den Klassikern ist er die Instanz für Lebenshilfe, Sinnsuche und das, was heute „Mental Health“ heißt. Und er bekam Fanpost wie ein Guru, empfing in seinem Leben sage und schreibe 45.000 Briefe.
Manchmal stellten die Leser ihrem Idol sogar bis an seine Tessiner Wohnadresse nach, weswegen der Autor im hohen Alter sein legendäres Schild „Bitte keine Besuche“ am Gartenzaun in Montagnola anbringen ließ. Doch selbst das hielt die aufdringlichsten Leser nicht ab. Öffentlichkeitsmüde klagt Hesse seinem Freund Walter Vesper: „Dies Pack macht mir Leben, Haus und Garten zur Hölle. Ich lebe als Tier in einem zoologischen Garten, auf allen Seiten stehen Gaffer (…).“
War Hesse am Ende seines Lebens resigniert, gar pessimistisch? Ein Gespür für die kaputte Welt klingt an. Seinem japanischen Übersetzer Mayumi Haga schreibt Hesse 1958: „Die ganze Menschheit ist heimatlos und unruhig, hastig und trübsinnig geworden (…)“. Seinen Verleger Siegfried Unseld lässt er 1962 wissen, dass ihn „die physischen Plagen und Schwächen, die Abhängigkeit vom Arzt etc. etc.“ genauso schmerzen wie das „Absinken der eigenen literarischen Geltung“ und „das Schwinden der Arbeitsfähigkeit als Ganzes“.
Obwohl der aktuelle neunte Band Hesses Briefe bis ans Lebensende dokumentiert, (das letzte Schreiben verfasste Hesse einen Tag vor seinem Tod), wird noch ein weiterer, zehnter Band folgen. Denn im Laufe der Editionsarbeit sind noch allerlei Schreiben, die schon verschollen geglaubt waren, wieder aufgetaucht, so etwa die Korrespondenz mit dem Verlegerehepaar Samuel und Hedwig Fischer.
Der sich nähernde Abschluss der Hesse-Briefedition lädt auch dazu ein, mit Kittler und McLuhan über diese Quellengattung als solche nachzudenken. Briefe als Leitmedium der Biografik wirken antiquiert, doch ihre Aussagekraft entfalten sie so sorgfältig und sortiert, wie es heutige Messenger-Dienste, Chats und Postings erst noch beweisen müssen. Vielleicht wird angesichts der Textmassen künftig auch nie wieder ein Mensch wie Volker Michels über Briefeditionen künftiger Schriftsteller brüten, sondern nur noch eine KI, die alles vermeintlich Wesentliche automatisch ausliest und zusammenfasst?
Hermann Hesse: Die Briefe. Band 9, 1958–1962. Herausgegeben von Volker Michels. Suhrkamp, 643 Seiten, 68 Euro.
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