Vor 40 Jahren ist „Komm und sieh“ uraufgeführt worden – einer der besten Kriegsfilme aller Zeiten. Obwohl er keine einzige Kampfszene enthält, macht er die Schrecken des gegenseitigen Abschlachtens in brutaler Weise sichtbar. Und vermittelt, wie aus Menschen Bestien werden.

Als Jesus in Gestalt eines Lammes das Buch mit den sieben Siegeln öffnete und dadurch den nunmehr seit 2000 Jahren währenden endzeitlichen Kampf zwischen Gut und Böse auslöste, hörte er viermal die Aufforderung: „Komm und sieh!“ Der christlichen Überlieferung nach berichtete Johannes der Seher in seiner Offenbarung, wie die vier apokalyptischen Reiter das Unheil in die Welt brachten, damit nach der Entscheidungsschlacht das Reich Gottes auf Erden errichtet werden kann: „Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd, und der darauf saß, dessen Name war: der Tod; und die Hölle folgte ihm nach.“

Als Elim Klimow nach einem Titel für seinen Film anlässlich des 40. Jahrestags des Sieges der Sowjetunion über Hitler-Deutschland suchte, stieß er auf die Prophezeiung aus dem Neuen Testament. Der Regisseur entschied sich für „Komm und sieh“. Denn so wie die Geschichte der Menschheit – nicht nur der christlichen – als schier ewige Abfolge verheerender Ereignisse erzählt werden kann, schildert Klimow in seinem Meisterwerk die Apokalypse des Zweiten Weltkriegs als nicht endende Aneinanderreihung von Bildern des Grauens, des Verderbens, des Untergangs, ohne dass der Himmel auf Erden sichtbar wird.

Seinen ersten Vorschlag, „Tötet Hitler“, lehnte die sowjetische Zensur ab: Sie wollte den Namen des Diktators nicht im Titel haben. Dabei, so der Künstler in einem Interview, „meinte ich nicht Hitler als Individuum, sondern etwas viel Generelleres. Töte das Monster in dir.“ Denn Klimow, der als Kind mit seiner Mutter über die „brennende Wolga“ aus dem belagerten Stalingrad floh, verstand seinen Film als „Mahnung“ und „leidenschaftliche Warnung vor dem Krieg“. Er war sicher, dass sich alles Furchtbare auf der Welt wiederholen kann, selbst so etwas unvorstellbar Böses wie der Zweite Weltkrieg und der Holocaust nicht zwingend singulärer Wahnsinn einer verderbten Nation bleiben müssen. „Wir haben alle unsere Dämonen“, sagte er und meinte: Der Krieg kann jeden Menschen zur Bestie machen.

Klimow ließ diesen Gedanken konsequent in „Komm und sieh“ einfließen. Das ist der Grund, warum sein Werk, das vor 40 Jahren, am 9. Juli 1985, auf dem Internationalen Filmfestival Moskau Weltpremiere feierte, bis heute Gültigkeit hat und zu den besten Kriegsfilmen aller Zeiten gezählt werden muss. 1977 begannen die Dreharbeiten, sie zogen sich auch wegen persönlicher Schicksalsschläge Klimows – seine Frau starb bei einem Autounfall – und mehreren Eingriffen der Zensoren hin. Die sowjetische Staatsmacht wollte zwischenzeitlich einen anderen Regisseur anheuern, was der Drehbuchautor Ales Abramowitsch laut Klimow ablehnte: „Sieben Jahre hat er für mich gekämpft.“

Der Schriftsteller, der 1988 zu den Gründern der Menschenrechtsorganisation Memorial gehörte, verwendete für das Skript Motive seines stark autobiografischen Romans „Partisanen“: Er hatte sich ihnen als Jugendlicher 1943 angeschlossen, so wie es Fljora, die Hauptfigur von „Komm und sieh“, ebenfalls tut. Zahlreiche im Film dargestellte Gräueltaten beruhen auf Augenzeugenberichten Überlebender der SS-Massaker an Dorfbewohnern in Weißrussland, die Adamowitsch und zwei seiner Kollegen in einem Buch festhielten, das erst Ende 2024 unter dem Titel „Feuerdörfer“ in erstklassiger Übersetzung auf Deutsch erschienen ist.

Schockierte Zuschauer

Deutsche Soldaten und sowjetische Kollaborateure brannten nach Angaben der Gedenkstätte Chatyn in Belarus 618 – Klimow spricht am Ende seines Films von 628 – Ortschaften komplett nieder und ermordeten die Einwohner aus Rache für Erfolge von Partisanen. 185 wurden nie wieder aufgebaut, darunter Chatyn, wo im März 1943 an die 150 Menschen, etwa die Hälfte Kinder und Jugendliche, in einer in Brand gesteckten Scheune ums Leben kamen.

Vor diesem Hintergrund spielt der Film, der ab 1986 in den Kinos der DDR und ein Jahr später in denen der BRD unter dem Titel „Geh und sieh“ lief. Trotzdem verzichtete Klimow auf Ideologie. Jeder sieht, was an Unrecht geschieht und wer die Täter sind. Klimow dämonisiert die deutschen Kriegsverbrecher nicht – und heroisiert die Partisanen nicht. Auch sie kennen keine Gnade. Obwohl man es in einem sowjetischen Film geradezu erwartet, wird kein einziger von ihnen als gütiger, gerechter, moralisch einwandfrei handelnder, kurzum: tadelloser Held gezeichnet.

Das wird schon in einer der ersten Szenen offenbar, als ein grobschlächtiger Partisan, der – Krieg ist ohne Zynismus undenkbar – Stahlhelm, Mantel und Ringkragen der deutschen Feldgendarmerie trägt, Grimassen schneidet, was den 13-jährigen Fljora zum Lachen bringt, während seine kleinen Schwestern bitterlich weinen. Die Mutter des Jungen fleht, weder ihren Sohn noch das Vieh mitzunehmen, da sie ihn als Stütze braucht und Lebensmittel knapp sind. Es gibt kein Erbarmen, jeder tut das, was er für seine Pflicht hält.

Fljora geht bereitwillig mit, er freut sich auf die Schlacht, ohne zu wissen, was Krieg bedeutet. Noch lächelt er wie ein Bub, der das Abenteuer sucht. Enttäuscht, weil er im Lager seiner neuen Kameraden bleiben muss, während die zum Kampf ausrücken, haut Fljora ab. In einem Wald trifft er Glascha, offenbar die Geliebte eines Partisanenführers, die zwischen Realismus und Wahnsinn, Entschiedenheit und Panik schwankt. Was sie verletzt hat, bleibt offen, ebenso ihr Schicksal. Ein Stilmittel Klimows ist es, nicht alles auszuerzählen, sondern Enden offenzulassen.

Glascha und Fljora überleben einen Bombenangriff in einem Wald. Der Junge verliert das Gehör. Über Minuten hinweg ist auch für den Zuschauer (fast) nichts zu verstehen, außer dumpfem Reden, Geräuschen aus der Natur und merkwürdigen, teils surrealen Tönen. Die beiden finden das Heimatdorf des Jungen leer. Das Mädchen sieht – im Gegensatz zu Fljora – von den Nazis ermordete Bewohner der Siedlung hinter einem Gebäude, behält es aber für sich. Bald erfährt Fljora von Überlebenden, die rechtzeitig auf eine von Moor umgebene Insel geflohen waren, von dem Massaker und dass seine Mutter und Schwestern zu den Opfern gehören.

Der Albtraum beginnt für ihn jetzt erst recht. Der Versuch, mit drei Männern Lebensmittel zu beschaffen, scheitert. Die Erwachsenen sterben ebenso wie eine Kuh. Nie war das Sterben eines Tiers so schmerzvoll zu sehen wie in „Komm und sieh“. Das lag daran, dass Klimow mit echter Munition schießen und die Kuh tatsächlich verrecken ließ. Später sieht man ein Pferd mit gebrochenen Beinen beim Bemühen, auf die Füße zu kommen – es ist unglaublich brutal.

Eher durch Zufall gelangt Fljora in ein Dorf, in dem die SS unter Beteiligung von Kollaborateuren – auch das Thema der Nazi-Helfer auf besetztem Gebiet ließ Klimow nicht aus – sämtliche Bewohner des Ortes in ein Gebäude sperrt und in Brand setzt. Die deutschen Soldaten verfolgen das Feuer grinsend, lachend, besoffen, grölend, scherzend, ihre Macht genießend, die Opfer verhöhnend und quälend. Fljora klettert aus dem Fenster: Warum er nicht erschossen oder wie ein kleines Kind wieder zurück in das brennende Haus geworfen wird – wir erfahren es nicht.

Der Junge, in nur zwei Tagen zum Jugendlichen mit grauen Haaren gealtert, kniet und dient als Objekt für ein Foto der SS-Männer zum Beweis ihrer angeblichen Überlegenheit als „Arier“. Er schaut hilflos nach oben zum Himmel als dem einzigen Ort, in dem die Apokalypse gerade nicht tobt. Die extrem authentische Gewaltdarstellung war Mitte der Achtzigerjahre im Kino neu. Klimow berichtete von schockierten Zuschauern, wegen derer „Notärzte kamen und sie mitnahmen“. (Auch der Autor dieser Zeilen sah den Film 1986 und verließ das Kino mit wackligen Beinen.)

Das liegt vor allem an dem großartigen Laiendarsteller Alexei Krawtschenko, für den Klimow einen Psychologen engagierte. Der Regisseur zitierte Krawtschenko, der bis heute als Schauspieler arbeitet, so: „Ich bin fast verrückt geworden.“ Wenn man das Martyrium Fljoras erlebt, kann man das nachvollziehen. Die Intensität seines Spiels ist grandios. Zu sehen ist, wie dem Jungen die Kraft ausgeht – eher emotional denn physisch. Das gipfelt in einer Begegnung mit einer zigfach vergewaltigten Frau, der Blut an den Beinen hinunterläuft. Partisanen, abgestumpft vom alltäglichen Terror, eilen nicht zu Hilfe, schauen nicht mal hin. Fljora, am Ende aller Gefühle, sagt der Frau lediglich zwei Worte: „Lieben“ und „Gebären.“

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