Es gab mal eine Frau – das ist schon Jahrzehnte her und an so etwas wie Lockdown war nicht zu denken –, die fuhr in die Berge. Da war es schön. Als sie aber eines Morgens erwachte, war die Welt verwandelt und sie allein. Und als sie losging, die zu suchen, mit denen sie unterwegs war (Mann und Cousine), stieß sie „an einer Stelle, an der doch gar nichts sein konnte als Luft“ auf eine gläserne Wand.

„Mein Herz hatte sich schon gefürchtet, ehe ich es wusste“, schreibt sie (etwas anderes als das Schreiben bleibt ihr in ihrer Einsamkeit nicht) – so wie Marlen Haushofer ihren Roman schrieb, am Küchentisch, in linierte Hefte. Anfang der Siebziger war das. Und „Die Wand“ wurde – weil Marlen Haushofer das Schicksal einer Frau im Gefängnis der Konventionen, das sich Zivilisation nennt, zu Ende dachte – zum Kultbuch.

Ein existenzielles Experiment über die Möglichkeiten eines selbstbestimmten richtigen Lebens im falschen war dieser Roman. Eine feministische, apokalyptische Geschichte des wohldosierten numinosen Schreckens, des intellektuellen Horrors. Und die war es noch in Julian Roman Pölslers meisterhafter Verfilmung mit der unvergleichlichen Martina Gedeck im Zentrum der Glaskuppel, auf die Haushofers eigentlich unverfilmbares Buch nur gewartet zu haben schien.

Vielleicht hätte Philip Koch, als Pandemie war und sein Haus wegen Renovierungsarbeiten von außen wie von Christo verhüllt, im Lockdown Marlen Haushofer lesen und Pölslers Film schauen sollen. Dann hätte er, der schon diverse „Tatort“-Folgen und die Dystopie „Tribes of Europe“ gedreht hat, als er die Idee zu seinem neuen Film hatte, geseufzt und „Gibt’s ja schon“ gesagt. Und uns wäre der Netflix-Film „Brick“ vielleicht erspart geblieben.

Hat er aber nicht. Und so steht Hauptfigur Liv eines Tages – wir sind nicht in den Bergen, sondern in Hamburg – auf der Schwelle ihrer Wohnungstür, durch die sie gerade auch ihre Beziehung mit Tim verlassen wollte, vor einer Wand. Diese Wand schimmert schwarz und ist zusammengesetzt aus astreinen, anthrazitfarbenen Steinen. Dass die Wand in „Brick“ eine Metapher ist wie die Wand bei Marlen Haushofer, hat Koch, weil er sich vielleicht nicht darauf verlassen wollte (oder konnte), dass das jeder mitbekommt, auch wenn er nicht mit dem dramaturgischen Vorschlaghammer darauf hingewiesen wird, bis dahin in Rückblenden geradezu ausgestellt. Und damit geht das ganze Elend los.

Tim und Liv leben in einem Haus, das renoviert werden soll und deswegen verhängt ist. Ziemlich weit oben leben sie in diesem Haus, das ist wichtig. Tim ist Spiele-Erfinder und Liv Architektin. Auch das ist natürlich hochsymbolisch. Denn „Brick“ ist ein anderthalbstündiges Spiel, in dem sich die beiden Helden aus offensichtlich paartherapeutischen Gründen von oben nach unten und von Escape-Room zu Escape-Room durch ein von kalter Hand entworfenes cineastisches Puppenhaus bohren, hämmern und morden müssen.

Liv und Tim (Matthias Schweighöfer, der noch nie so angestrengt berufsjugendlich aussah, und Ruby O. Fee sind auch im wirklichen Leben ein Paar) haben vor zwei Jahren ihr Kind bei der Geburt verloren. Liv hat getrauert – sie ist halt eine Frau. Tim hat sich ins Gefängnis seiner Arbeit geflüchtet – er ist halt ein Mann. Sie (sie ist ja eine Frau) versucht es noch einmal. Hat den Job gekündigt, ein rosa Wohnmobil gekauft. Und will los mit ihm. Nach Paris. Tim will das nicht. Er hat den nächsten Call mit seiner Firma.

Eine dämliche Mauermaschine

So haben sie sich über die Jahre eingemauert in ihrer perfekt ausgestatteten Wohnung, an die man sich aus einem halben Dutzend Florian-David-Fitz-Beziehungskomödien zu erinnern meint. Dass zur Grundausstattung dieses Mustermöbelappartements auch ein Vorschlaghammer und eine gewaltige Schlagbohrmaschine gehören, hätte man allerdings nicht gedacht. Für „Brick“ aber sind solche Werkzeuge natürlich wichtig.

Philip Kochs Mauermaschine ist nämlich, damit ein ordentlicher Horrorfilm aus „Brick“ wird und kein High-Brow-Psycho-Kammerspiel wie „Die Wand 2.0“, doch eher dämlich. Tür und Fenster verbarrikadieren die schwarzen Steine, die Wände und die Decken aber nicht. Und so brechen Tim und Liv, als wäre es eine Aufgabe der letzten Therapiestunde, gemeinsam von Wohnung zu Wohnung durch bis zum Keller. Liv – sie ist ja Architektin und hat die Pläne gelesen – weiß nämlich, dass es da einen Weg ins Freie gibt. Oder geben könnte.

Unterwegs versammeln sie bei ihrem Zug durch die Stockwerke und Wohnungen nach der alten Kinderbuch-Heldenreisen-Dramaturgie eine absonderliche Gruppe von Menschen um sich. Die bleiben ungefähr so flach wie die stets akkurat das jeweilige Soziotop illustrierende Ausstattung der Wohnungen (trotz des teilweise erheblichem Blutverlusts seiner Bewohner sind das Haus und seine Bewohner so sauber wie die Ikea-Muster-Abteile morgens kurz vor der Öffnung).

Nur ganz unten im Erdgeschoss, da treffen die, die noch übrig sind, auf einen interessanten Typen. Einen wenigstens ansatzweise komplexen Verschwörungsschwurbler (Muratan Muslu), der meint, da draußen sei die Apokalypse passiert und sie sollten doch froh sein um die Mauer. Sind sie aber nicht. Und so geht alles seinen Gang.

Am Ende kommt es tatsächlich zu einem Moment der Epiphanie. Es wird Licht. Und dann spätestens sollte man, wenn man bis dahin nicht die Nerven verloren hat mit Philip Kochs untersubtilen Schlag- und Bohr-Spiel den Streamingdienstleister wechseln. Koch, der schon bis dahin alles getan hat, seinem Horrorfilm jedes Geheimnis austreiben, entlässt uns natürlich nicht, wie es Haushofer und Pölsler in „Die Wand“ getan haben, mit einem Gefühl der existenziellen Verunsicherung. Das Herz muss sich nicht fürchten in diesem Film.

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