Als er mit dem Theater anfing, erzählt Julian Warner, dachte er, das sei Arbeit. Aber dann wurde ihm erzählt, alles sei politisch, auch die Bühne. Und Politik ist Kampf. So war er nicht länger ein Künstler, sondern fortan Soldat im Kulturkrieg: jeder gegen jeden. Und die Kampfschriften? Finden sich bei Frantz Fanon, der Ikone der Dekolonisierung.

In seiner autofiktionalen Soloperformance „Der Soldat“ am Stuttgarter Theater Rampe nähert sich der Kurator, Künstler und Kulturmanager Warner auf höchst erhellende Weise dem widersprüchlichen Erbe von Fanon – und seinem eigenen Engagement als Kultursoldat an der Front des antirassistischen Theaters. Es ist ein Abend darüber, welche historischen Kostüme im politischen Theater angesagt sind.

Eine Leinwand hat Warner mitten in den Raum gehängt, auf die im überlebensgroßen Heldenformat das Gesicht des vor 100 Jahren geborenen Fanon projiziert wird. Entrückt, wie eine Ikone oder ein Heiliger, wirkt Fanon, der Autor von „Schwarze Haut, weiße Masken“ und „Die Verdammten dieser Erde“, das bereits vor über 50 Jahren zum Bestseller wurde und heute als „Klassiker der Dekolonisierung“.

Warner umkreist diese monumentale Lichtfigur, angetrieben vom Schlagzeug von Markus Acher: eine Mischung aus Beat und Sprache wie bei Gil Scott-Heron. „The Revolution Will Not Be Staged“ könnte der Abend im Untertitel heißen, denn Warner will keine höheren aktivistischen Weihen von Fanon empfangen, sondern fragt nach der Faszination solcher Ikonen.

Warner, der bis dieses Jahr das Brecht-Festival in Augsburg leitete, ist bekannt dafür, auch die heißen Eisen in der Debatte über Kunst und Aktivismus anzufassen. So forderte er kürzlich im Theaterpodcast des Deutschlandfunks, sich kritisch mit der aktuellen Kulturförderung, ihren Parolen und ihren Ergebnissen auseinanderzusetzen: „Bitte keine neuen Diversitätsprogramme!“ Auch zeichnet Warner eine reflexive, ironische Distanz zum Identitätsdiskurs aus. „Als ich 1985 in Deutschland zur Welt kam, war ich ein Ausländer, 2005 wurde ich zum Mitbürger mit Migrationshintergrund, 2010 dann postmigrantisch, 2012 Schwarz, jetzt bin ich wohl BIPoC“, schrieb Warner einmal über den sich stetig wandelnden Diskurs mit seinen eigenen sprachlichen Blüten.

Warner war Dramaturg bei der „Schwarzkopie“ von „Mittelreich“, dem meistdiskutierten Stück der Theatersaison von 2017, eingeladen zum darauffolgenden Theatertreffen. Dabei brachte die Regisseurin Anta Helena Recke eine bereits existierende Inszenierung wieder auf die Bühne, allerdings ausschließlich mit schwarzen Schauspielern. Mit den Mitteln der „Approbiation Art“ sollte das Theater als weiße Institution entlarvt werden. Mit der Schwarz-Weiß-Brille sieht man auch entsprechend. In Warners „Der Soldat“ klingt es, als hätte man Fanons „Schwarze Haut, weiße Masken“ aufführen wollen. Nur dürfte ein Münchner Stadttheater zwar keineswegs diskriminierungsfrei sein, ist deswegen aber auch kein brutales Kolonialregime wie das damalige Algerien.

Je länger Warner seine Runden um das Porträt und die in Fetzen eingespielte Biografie von Fanon dreht, desto näher kommt er der Frage, wie verführerisch es ist, die Welt heute so zu sehen wie Fanon damals: als gespaltene Welt des Kolonialismus, mit Kolonisatoren und Kolonisierten. Nicht zuletzt in der fatalen, weil irreführenden Rede vom „Siedlerkolonialismus“ verbreitet sich dieses Weltbild heute rasend, wie es Adam Kirsch in einem klugen Essay seziert hat.

Was soll die Kunst leisten? Soll sie heilen, kampffähig machen oder Solidarität simulieren? Was Warner als Kultursoldat umkreist, ist das Schlachtfeld der Kulturpolitik, das er nicht mit neuer Munition versorgen will, sondern zunächst nach der eigenen, ambivalenten Rolle darin fragt. Auch hier nimmt Warner die eigene Erfahrung als Material, spricht von der Besatzungsmacht einer Stadt, die ihn mit einer symbolischen Öffnung beauftragt hat, um die Nöte der Bevölkerung in hübsche Kunst zu verwandeln. Das Ergebnis sei eine „toxische Dynamik“ gewesen.

So richtet er direkt das Wort an das Fanon-Abbild und sagt: „Den ganzen Abend reden wir aneinander vorbei. Du redest vom bewaffneten Kampf gegen das französische Imperium, ich von deutscher Kulturpolitik.“ Nur sieht politisches Theater oft genau so aus, dass man dieses Missverständnis als gelingenden Dialog darstellt. Die Folge ist ein Verbalradikalismus, dem die zu bekämpfenden Übel nie groß und abstrakt genug sein können: politisches Theater als Donquichotterie.

Warner unterläuft das Identifikationspotenzial von Fanon als politischer Ikone – und setzt dem berüchtigten ersten Kapitel von „Die Verdammten dieser Erde“, das die Unausweichlichkeit politischer Gewalt konstatiert, das letzte Kapitel mit Fallstudien aus Fanons psychiatrischer Arbeit entgegen, in dem die Verheerungen der Gewalt (und zwar bei Opfern und Tätern) beschrieben werden. Fanon wusste, was Gewalt anrichtet – und als Psychiater versuchte er, ihre Wunden zu heilen.

Daran anknüpfend ist für Warner, selbst Gruppenpsychoanalytiker in Ausbildung, Fanons wahre revolutionäre Tat nicht dessen Engagement beim FLN, sondern sein Beitrag zur Ethnopsychoanalyse. In diese Richtung geht auch die neue Fanon-Biografie „Arzt, Rebell, Vordenker“ von Adam Shatz.

Warners knapp einstündige Performance „Der Soldat“ greift in ihrer geschickten Doppelbödigkeit zweifelnd und korrigierend in den aktivistischen Theaterdiskurs der Gegenwart ein. Warner ist kein Propagandist im Kulturkrieg, sondern ein Kartograf der Konfliktlinien im Handgemenge. Warner zeigt eine innere Zerrissenheit, die er bei Fanon, der in der Résistance für den Universalismus von 1789 kämpfte und von der Restauration unter de Gaulle enttäuscht wurde, wiederfindet: nicht als Ikone der Guerilla, sondern als Psychiater. Ein Plädoyer für Gespaltenheit und gegen den diskreten Charme der Identifikation, das Fanon gegen seine Liebhaber verteidigt, die sich nur die historischen Kostüme borgen wollen, ohne die widersprüchlichen Einsichten zu bergen.

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