Es habe Mängel bei der Stimmauszählung gegeben, aber die würden das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen nicht infrage stellen. So erklärte es Polens Oberstes Gericht am 1. Juli, das zuständig ist für die Anerkennung von Wahlergebnissen.
Genau einen Monat zuvor, am 1. Juni, hatte Karol Nawrocki, der Kandidat der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), seinen Gegner Rafal Trzaskowski von der liberalkonservativen Bürgerplattform (PO) denkbar knapp in einer Stichwahl geschlagen. 50,9 Prozent der Stimmen erhielt Nawrocki, 49,1 Prozent Trzaskowski. Es ist ein Unterschied von gerade mal 370.000 Stimmen.
Nach dem Wahltag waren beim Obersten Gericht mehr als 50.000 Beschwerden oder Einwände von Wählern eingegangen, eine ungewöhnlich hohe Zahl. Das Gericht veranlasste gerade einmal dreizehn Neuauszählungen bei mehr als 30.000 Wahllokalen. Es waren Unregelmäßigkeiten zugunsten Nawrockis festgestellt worden, in einigen Fällen allerdings auch zugunsten Trzaskowskis. Systematische Manipulationen konnte das Gericht nicht feststellen.
Eigentlich dürfte der Vereidigung von Nawrocki zum Staatsoberhaupt am 6. August nichts im Weg stehen. Trotzdem bestehen in der Öffentlichkeit erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Anerkennung der Wahl. Zwar stellen einige vertauschte Stimmzettel oder falsch gesetzte Kreuze kein größeres Problem dar. Darin sind sich die meisten Beobachter, Experten und Nichtregierungsorganisationen einig. Dass auf diesem Wege noch mindestens 370.000 weitere Stimmen für Trzaskowski zusammenkommen und dieser Präsident wird, halten sie für ausgeschlossen.
Aber Polens Oberstes Gericht, das nun über den Sieg des Kandidaten der PiS befindet, hat erheblich an Vertrauen eingebüßt. Das sei eine Folge des jahrelang von der PiS vorangetriebenen Justizumbaus, das „kein oder nur eingeschränktes“ Vertrauen in Richterentscheidungen bestehe, sagte Jakub Jaraczewski, Experte der Denkfabrik Democracy Reporting International, zu WELT AM SONNTAG. „Nun gab es Unregelmäßigkeiten bei der Stimmauszählung, die Gerichte müssen diese aufklären. Nur hat das in den Augen vieler eben kaum einen Wert“, so Jaraczewski weiter.
Die Folgen des Umbaus des Justizsystems durch die PiS unter Parteichef Jaroslaw Kaczynski in den acht Jahren ab 2015 beschäftigen Polen bis heute. Die Regierung von Premierminister Donald Tusk, die im Dezember 2023 die Amtsgeschäfte übernahm, konnten ihn nicht rückgängig machen.
Blockade-Haltung gegen Reformen zu erwarten
Entgegen ihrer Wahlversprechen wurde die Justiz nicht „redemokratisiert“. Dafür zeichnet vor allem Präsident Andrzej Duda verantwortlich. Seit eineinhalb Jahren verhindert er durch sein Veto jeden Reformversuch der Regierung. Es ist zu erwarten, dass der künftige Präsident Nawrocki sich ähnlich verhalten wird.
Der Umbau des Gerichtswesens stellte bis 2023 den Kern der Agendapolitik der PiS dar: unliebsame Richter wurden vor eine Disziplinarkammer gestellt, neue Verfahren zur Richterwahl oder gar neue Kammern geschaffen. Eine von ihnen ist die „Kammer für außerordentliche Kontrolle und öffentliche Angelegenheiten“ am Obersten Gericht, die nun auch das Wahlergebnis anerkannt hat.
Im Jahr 2023 befand der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass diese Kammer „kein unabhängiges“ Gericht sei und folglich von ihr gefällte Entscheidungen „nicht notwendigerweise bindend“ seien.
„Dass ausgerechnet diese Kammer das Wahlergebnis für rechtens erklärt hat, muss einem aufstoßen“, sagt Experte Jaraczewski. „Gleichzeitig hat die Kammer auch zurückliegende Wahlen, die zum EU-Parlament oder die polnischen Parlamentswahlen, für rechtens erklärt – und das Tusk-Lager hat daran keinen Anstoß genommen.“ Das ist jetzt anders, wo ein Kandidat seiner Regierung unter Donald Tusk die Wahlen verloren hat.
Zwar hat der Premier verlauten lassen, Nawrocki als Präsidenten anzuerkennen. Allerdings wurden zugleich Zweifel aus seiner Partei an der Rechtmäßigkeit der Wahl gesät, vor allem durch den Abgeordneten Roman Giertych. Der einst radikale Rechte und Klerikalnationalist, der im Jahr 2006 für ein Jahr einer von der PiS geführten Regierung angehörte, startete nach der Stichwahl eine regelrechte Kampagne gegen das Wahlergebnis.
Das Beispiel zeigt, dass die Nationalkonservativen in Polen ein System geschaffen haben, in dem Richtersprüche von unterschiedlichen politischen Kräften je nach Belieben anerkannt werden können – oder eben auch nicht. Er herrscht Chaos und Anarchie in den Gerichten, auch eineinhalb Jahre nach dem Antritt der Tusk-Regierung, die eigentlich wieder Ordnung herstellen wollte.
PiS hat Gerichte mit Loyalisten besetzt
Die wesentlichen Probleme, auch am Obersten Gericht, haben längst eigene Begriffe, die außerhalb Polens niemand versteht. „Doppelgänger-Richter“, „Neo-Richter“ oder „Neo-KRS-Richter“. „KRS“ ist das polnische Kürzel für den Landesjustizrat. Der ist zwar kein Organ der Rechtsprechung, aber dennoch zentral für die Judikative.
Er prüft zum Beispiel Richterkandidaten und schlägt dann ihre Einsetzung durch den Präsidenten vor. Im Jahr 2018 nahm der von der PiS umgebaute Landesjustizrat seine Arbeit auf – die von unabhängigen polnischen wie internationalen Experten als nicht in Einklang mit der polnischen Verfassung bewertet wird.
Auch das polnische Parlament hat den Umbau des Landesjustizrats ab 2023 rückwirkend nicht anerkannt. Die ab 2018 ernannten Richter sind demnach „Neo-Richter“, die folglich kein Recht sprechen dürften oder deren Urteile potenziell angezweifelt werden können.
Dabei handelt es sich mittlerweile um ungefähr 3000 Personen und potenziell Millionen von Rechtsakten – die in der dargelegten Logik nicht legal sind. Das Ziel der PiS war es, die Gerichte mit Loyalisten zu besetzen und so unter ihre Kontrolle zu bringen.
Welche Wirkung es hat, wenn Gerichte zu einem Instrument der Politik verkommen, zeigt der Fall K3/21. Am 7. Oktober 2021 urteilte das polnische Verfassungsgericht, dass die europäischen Verträge nicht in Einklang mit der polnischen Verfassung seien, darunter auch Artikel 19, der die Autorität des EuGH festschreibt.
Dieses Urteil stellt den Höhepunkt im Konflikt zwischen Polen und der EU-Kommission und dem EuGH dar. Ihm liegt ein sogenannter Ultra-vires-Akt zugrunde, also eine Kompetenzstreitigkeit. Für viele Experten mithin das Urteil eines „juristischen Polexit“ – der bis heute nicht zurückgenommen wurde.
Auch ist das Verfassungsgericht immer noch mit PiS-treuen Richtern besetzt, wodurch die Partei weiterhin enormen Einfluss hat. Die Justiz ist politisiert, alles kann angezweifelt werden, in Polen wie auch international. Wenn der römische Rechtsgrundsatz gilt, dass aus Unrecht kein Recht entsteht, dann müsste das komplette Justizwesen in Polen umgekrempelt werden.
„Es wird sehr schwierig werden, das System zu ‚reparieren‘“, sagt Jaraczewski. Es sei zu vermuten, so der Experte weiter, dass Nawrocki mindestens so hart gegen die Regierung arbeiten werde wie Duda „und Tusk so ‚impotent‘ aussehen lassen könnte.“
Philipp Fritz ist seit 2018 freier Auslandskorrespondent für WELT und WELT AM SONNTAG. Er berichtet vor allem aus Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei sowie aus den baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland. Schwerpunktmäßig beschäftigt er sich mit rechtsstaatlichen und sicherheitspolitischen Fragen, aber auch mit dem schwierigen deutsch-polnischen Verhältnis.
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