Zum Start der Sommerferien warnt die Berliner Menschenrechtlerin und frühere Anwältin Seyran Ateş vor Zwangsheiraten. Sie würde am liebsten schon Kinder in der Grundschule darüber aufklären. Gerade in den Sommerferien stiegen die Zahlen. Und: Die entsprechenden Gemeinschaften hätten keinerlei Unrechtsbewusstsein, sagt sie.
Im Jahr 2022 hat Berlin laut RBB fast 500 Fälle von drohenden oder vollzogenen Zwangsheiraten erfasst. „Ich befürchte, dass die Zahlen noch zunehmen werden“, sagte sie im RBB Inforadio. Das liege auch daran, dass seit 2015 mehr Migranten eingewandert seien.
Für Ateş steht fest, welche Bevölkerungsgruppen dies betreffen: „Wir sprechen in Deutschland von einer Parallelgesellschaft der muslimischen Gemeinschaft“, sagt sie. Zwangsverheiratungen fänden aber auch etwa bei Sinti und Roma statt. „Vor allem in archaisch-patriarchalen Gesellschaften. In Deutschland ist es aber vor allem die muslimische Community. Sie haben keinerlei Unrechtsbewusstsein dabei.“ Zwangsheiraten sollen verhindern, so Ateş, dass etwas außerhalb der religiösen Regeln passiert, wie etwa unehelicher Sex.
Auch das Bezirksamt Berlin-Neukölln wies in einer aktuellen Mitteilung auf das Problem hin: Trotz Verbot fürchteten „jedes Jahr viele Berliner Jugendliche“ – besonders vor den Sommerferien –, im Ausland gegen ihren Willen verheiratet zu werden. Die meisten Betroffenen seien hier aufgewachsen.
„Die allermeisten sind ohnmächtig in der Situation“
Ateş hat als Anwältin lange Zeit solche Fälle betreut. 1984 erschoss während einer Beratung ein Mann ihre Klientin Fatma E. und verletzte Ateş. Eltern arrangierten während des Heimatbesuches alles mit Verwandten und überraschten dann damit ihre Töchter oder Söhne. Einen Weg heraus gäbe es oft nicht. Sie habe junge Menschen erlebt, die sich dann versucht haben, selbst zu töten oder sich an Behörden zu wenden. „Die allermeisten sind ohnmächtig in der Situation.“ Sie schätzt, dass 80 Prozent der Betroffenen zuvor völlig ahnungslos seien.
Viele trauten sich aber nicht, ihre Eltern anzuzeigen, obwohl das Gesetz ihnen Schutz bietet, denn Zwangsheirat ist in Deutschland seit 2011 strafbar. Es drohen bis zu fünf Jahre Haft. „Meiner Meinung nach hilft es nur, wenn wir bereits in der Grundschule anfangen, Kinder zu sensibilisieren“, so Ateş. „Wenn sie bestärkt werden, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Sie müssten verstehen, dass es nicht in Ordnung ist, dass die Eltern entscheiden, wen sie heiraten, wen sie lieben dürfen.“
Jugendliche sollten zudem wissen, dass sie Zuflucht bekommen, wenn sie Schutz brauchen. Seit 2017 sind auch Kinderehen in Deutschland verboten und können, wenn sie im Ausland geschlossen wurden, aufgehoben werden. Das Mindestalter beträgt in Deutschland 18 Jahre. Allerdings sei der Schritt zu Behörden und Gerichten für viele sehr schwer, sagt sie.
Das Bezirksamt Berlin-Neukölln hat auf seiner Website Informationen zum Thema veröffentlicht. Es rät Jugendlichen, die im Urlaub befürchten, zwangsverheiratet zu werden, Bargeld, Ausweiskopien und Botschaftsadressen mitzunehmen, um sich Hilfe holen zu können. Selbst Bezirksbürgermeister Martin Hikel äußerte sich: „Zwangs- und Frühverheiratungen sind Menschenrechtsverletzungen, die wir nicht tolerieren. Wir wissen aber, dass sie Realität sind für Neuköllner Jugendliche.“
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